Effektives Üben: Interleaved practice und die Rolle des Gehirns
Wie nutzen wir unsere Übezeit am Sinnvollsten: Eine Frage, die nicht nur Anfänger von Musikinstrumenten oder Gesang, sondern auch Fortgeschrittene beschäftigt. Viele Musiker versuchen, durch maximale Übestunden voranzukommen, was jedoch nicht immer zu besseren Ergebnissen führt: Die Effizienz der Übezeit ist entscheidend. In diesem Beitrag stelle ich eine weniger bekannte, aber effektive Übestrategie vor: das verschachtelte Üben (»interleaved practice«), eine Methode, die in der Sportpsychologie seit den 70er Jahren mit wachsendem Interesse untersucht wird. Das verschachtelte Üben ist eine Ausprägung des sogenannten »variierten Übens«. Dieser Ansatz, der sich vom traditionellen wiederholenden Üben unterscheidet, kann die musikalische Fertigkeit durch die gezielte und strategische Variation der Übungsinhalte signifikant verbessern und bietet eine effiziente Möglichkeit, in kürzerer Zeit voranzukommen, insbesondere, wenn es darum geht, sich das Geübte zu merken. Hier spreche ich über die Unterschiede und die Vor- und Nachteile des variierten Übens gegenüber dem traditionellen »wiederholenden« Üben, über die wichtigsten Formen des variierten Übens und über deren Anwendung bei Instrumenten und Gesang.
Warum ist variiertes Üben wertvoll als Übestrategie?
»Wiederholen, bis es klappt« ist keine Maßnahme, auf die man sich verlassen möchte. Nach einigen Wiederholungen wird das Gehirn müde, Fehler schleichen sich ein – selbst, wenn man seine Passage bereits einige Male fehlerfrei spielen konnte. Dieses Phänomen ist in Musikerkreisen als »Überüben« bekannt.
Hintergrund zu diesem Phänomen ist: Unser Gehirn hat sich dafür entwickelt, erst bei Abweichungen aufmerksam zu werden – und nicht bei Wiederholung. Beispielsweise wurde die Reaktion von Babys untersucht, wenn ihnen dasselbe Objekt immer wieder vorgestellt wird. Nach einiger Zeit reagiert das Baby beim selben Objekt mit immer größerem Desinteresse; dieser Prozess wird »Habituation« genannt. Stellt man ihm hingegen ein neues Objekt vor, ist die Aufmerksamkeit wieder da. Wir kennen das selbst aus eigener Erfahrung: durch eine zu häufige Wiederholung ein und derselben Passage beginnt das Gehirn, sich zu langweilen, bis hin sogar abzuschweifen. Viele zwingen sich gerade in diesen Momenten dazu, aufmerksam zu bleiben – dabei arbeiten sie gegen ihr Gehirn in einem sinnlosen “Machtkampf”.
Wie anders wäre es, wenn wir unsere Neurobiologie für uns zunutze machen würden: Das variierte Üben nutzt die Vorliebe des Gehirns, sich auf eine Neuartigkeit zu fokussieren. Unsere Aufmerksamkeit steigt auf natürliche Art und Weise, ohne, dass wir uns anstrengen müssen.
Die Vorteile des variierten Übens gegenüber dem wiederholenden Üben scheinen insbesondere in der Ausbildung des Erinnerungsvermögens zu liegen und im Transfer der erlernten Fähigkeiten auf einen neuen Kontext oder ein neues Stück. Das jedenfalls ergibt die Studienlage, auf die ich weiter im Text eingehen werde.
Bevor ich zu diesen Studien komme und zu den vielen Möglichkeiten des variierten Übens, möchte ich die Strategie des »verschachtelten Übens« (Interleaved practice) dem »Üben im Block« in einem Vergleich gegenüberstellen.
Was ist der Unterschied? »Verschachteltes Üben« (Interleaved practice) versus »Üben im Block« (blocked practice)
Die oben beschriebene Situation, in der wir ein und dieselbe Stelle, ein und dasselbe Stück oder ein und dieselbe technische Schwierigkeit üben, nennt sich in der Sportpsychologie »blocked practice«. Beispielsweise dauert die Übesitzung 30 Minuten, und in dieser Zeit wird ein einziges Element (Stelle, Stück, technische Schwierigkeit, etc.) geübt und vertieft.
Das verschachtelte Üben (interleaved practice) bedeutet hingegen, die zu übenden Elemente (Stellen, Stücke, technische Schwierigkeiten, etc.) innerhalb einer selben Übesitzung abzuwechseln: Man würde in einer Übesitzung von angenommen 30 Minuten zwischen zwei oder mehr verschiedenen Stücken oder Passagen (oder technischen Herausforderungen) hin und her wechseln. Beispielsweise haben wir drei Stellen, die wir verbessern wollen, so würden wir diese drei Passagen im Kreis jeweils 3 Minuten üben, insgesamt 9 Mal pro Passage à 3 Minuten, macht 27 Minuten.
Das verschachtelte Üben (Interleaved Practice) ist lediglich eine der vielen Ausprägungen des variierten Übens – weiter unten stelle ich mehr Möglichkeiten des variierten Übens vor. Doch zunächst möchte ich die Vor- und Nachteile beider Strategien gegenüberstellen mit Blick auf Untersuchungen in der Sportpsychologie.
Wie sinnvoll ist Interleaved Practice im Vergleich zu Blocked Practice? Ein Überblick zur Forschung
Auf den ersten Blick erscheint das Üben im Block als sinnvoller, denn man bekommt mehr Zeit, sich in die Aufgabe (Stelle, Stück, etc.) zu vertiefen. Das muskuläre Gedächtnis benötigt schließlich Wiederholung, um ausgebildet zu werden, und das Gehör benötigt ebenfalls Wiederholung, um die Musik zu erlernen – also liegt es nahe, die notwendigen Wiederholungen alle hintereinander zu vollziehen. Hinzu kommt noch, dass wenn wir einige Minuten an ein und derselben Stelle üben, sich mit der Zeit ein angenehmeres Gefühl im Körper einstellt, die Passage beginnt, “besser zu liegen” – sie fühlt sich natürlicher und angenehmer an. Es liegt nahe, dass uns das durchaus weiter bringt.
Wieso sollte man sich also von dieser Übestrategie lösen und stattdessen auch das variierte Üben einsetzen?
Die Herausforderung beim Üben im Block besteht in erster Linie darin, von Anfang an auf dasselbe angenehme Gefühl Zugriff zu haben, auf dieselbe Tiefe, die in der Übesitzung am vorherigen Tag entstanden war. Was wir heute nach einigen Minuten des Übens als angenehm empfinden, müssen wir oft am nächsten Tag erneut wiederherstellen und brauchen wieder einige Zeit, um “reinzukommen”.
Allgemein scheint es laut Studienlage tatsächlich so zu sein, dass das erstmalige Erlernen von Stücken oder technischen Schwierigkeiten beim zufälligen oder variierten Üben langsamer vonstatten geht als beim Üben im Block. Das ergibt erstmal Sinn, weil man ja von einer Aktivität in die nächste geht, ohne sie vertiefen zu können. Warum diese Übepraxis dennoch wünschenswert sein kann, zeigen die Forschungsergebnisse, denn seit den 70’er Jahren beschäftigt sich die Lern- und Sportpsychologie mit diesem Phänomen.
Eine frühe Studie untersuchte das Erlernen von Bewegungen an sich (nicht also sportliche oder musikalische Bewegungen): Contextual interference effects on the acquisition, retention, and transfer of a motor skill (1979)
Die Versuchspersonen sollten die abgebildeten Marker (siehe Abbildung: links und rechts platziert, sowie vorne, mittig und hinten) in einer bestimmten Reihenfolge mit der Hand “antitschen”. (Beispielsweise: Links Mitte, Rechts hinten, Rechts vorne.) Es gab zwei Lernphasen, bei denen je nach Gruppe entweder eine oder mehrere Reihenfolgen trainiert wurden. Dadurch entstanden insgesamt vier Gruppierungen von Versuchspersonen: von denjenigen, die ausschließlich im Block geübt hatten, über diejenigen, die einmal variiert und einmal im Block geübt hatten, bis hin zu denjenigen, die ausschließlich variiert geübt hatten (in der Studie als “random practice” bezeichnet, was aber letztlich dasselbe bedeutet).
Diejenigen, die die Bewegungen im Block geübt hatten, schnitten beim Test direkt danach deutlich besser ab als diejenigen, die immer wieder unterschiedliche Abfolgen einüben mussten.
Als es jedoch darum ging, das Erinnerungsvermögen zu testen, sprich: nach einiger Zeit erneut zu testen, was die Versuchspersonen im Kopf behalten hatten, schnitt die variable Gruppe (“random practice group”) deutlich besser ab als die Gruppe, die im Block geübt hatte. Das ging sogar weiter: Wenn variables Üben in einer der beiden Lernphasen involviert gewesen war, schnitt die Person automatisch besser ab als jemand, der ausschließlich im Block geübt hatte. Ebenso schien sich das variable Üben positiv auszuwirken auf jegliche Transferleistungen, wo das Material in anderem Kontext anzuwenden war oder neue Fähigkeiten (neue Bewegungsreihenfolgen) abgefragt wurden.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine weitere Studie von 1989, Specificity and Variability of Practice (Shea and Kohl, 1989).
Bei einer Studie, die Interleaved practice untersuchte in Bezug auf das Kombinieren von bekanntem und neuem Lernmaterial, ergab, dass die Interleaved Gruppe direkt nach der Übesitzung weniger gut abschnitt, dass aber bei späteren Tests das Erinnerungsvermögen erheblich besser war (Taylor and Rohrer, 2010).
In einer Studie von 2003 wurde bei Medizinstudenten untersucht, wie das variable Lernen sich mit Abstand als die beste Form darstellte, um die Ergebnissen des Elektrokardiogramms kompetenter zu interpretieren, also auch bessere Diagnosen zu stellen.
Es scheint also durchaus sinnvoll zu sein, das variierte Üben als ein Werkzeug einzusetzen, um das Gehirn an die veränderlichen Bedingungen des Lernens und des Musizierens zu gewöhnen, sowie daran, sich schneller auf eine neue Aufgabe (Stück, technische Schwierigkeit, etc.) einzustellen. Kurz: Das Gehirn ist schneller bereit, etwas Neues zu lernen und vor allem das Gelernte in Erinnerung zu behalten – und das ist ja schließlich eines der Gründe, warum wir üben: um am nächsten Tag darauf aufzubauen.
Der andere Vorteil dieser Strategie ist die Retention von Material (Gedächtnis), nachdem eine gewisse Zeit verstrichen ist. Dass also das Geübte im variierten Üben länger im Gedächtnis bleibt, als wenn man im Block übt.
Schauen wir uns nun die Forschung im Bereich Musik an, ob das auch so ist.
Wie wurde das variierte Üben im Bereich Musik bislang untersucht?
Im Folgenden stelle ich einige ausgewählte Studien vor; diese Auflistung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit:
Ausgehend von der Prämisse, dass variiertes Üben durchaus sinnvoll ist beim Erlernen von neuen Fähigkeiten, untersuchte eine Studie des Instituts für Musikermedizin der Hochschule Carl Maria von Weber Dresden im Jahr 2014 mithilfe von 36 Musikstudenten im Nebenfach Klavier die Effekte des variierten Übens auf einen größeren Sprung in der linken Hand in gespreizter Handhaltung.
Die Studie ergab, dass die variable Gruppe in ihrer Effektivität im Prinzip doppelt so schnell ein neues Intervall in der linken Hand erlernen konnte als diejenigen, die im Block (ein einziges Intervall wiederholend) geübt hatten. Bei quasi allen Performance Tests (wo es um das eine Intervall ging) schnitten alle Gruppen jedoch ähnlich ab und es konnten keine signifikanten Unterschiede in der Verbesserung der Fehlerquote festgestellt werden. Die Gruppe, die im Block (wiederholend) geübt hatte, hatte bei späteren Transfertests (bei denen ein neues Intervall vorgestellt wurde) die größte Fehlerquote. Nach einer bestimmten Zeit wurde das Intervall erneut abgefragt – die wiederholende Gruppe konnte es nicht mehr rekonstruieren, während es bei der variablen Gruppe noch abrufbar war.
Demnach konnte die Studie manche frühere Ergebnisse aus der Sportpsychologie bestätigen, manche andere nicht.
Aus meiner Perspektive ist zusätzlich zu beachten, dass alleine das Design einer Studie durchaus ausschlaggebend ist für deren Ergebnisse, und dass eine Oktave in schnellem Abwärtssprung zu spielen eine Aufgabe ist, die bei den meisten Nebenfächlern im Fach Klavier eine relativ große Herausforderung darstellt. Mit 36 Teilnehmern und einer komplexen Unterteilung in diverse Untergruppen gibt die Datenlage meines Erachtens zu wenig her, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Dafür müssten es vielleicht 100 Pianisten sein. Wäre die Aufgabe leichter gewesen und die Gruppe homogener, denke ich, dass bestimmte Ergebnisse hätten reproduziert werden können. Bei Nebenfächlern im Fach Klavier gibt es, wie man sich denken kann, größere Unterschiede bei den Fähigkeiten und Erfahrung am Instrument; hier in dieser Studie gab es Versuchspersonen, die mit 9 Jahren angefangen hatten neben solchen, die mit 15 Jahren angefangen hatten, daher finde ich die Unterschiede relativ groß. Wohl legten die Forscher Wert darauf, ausschließlich Rechtshänder in der Studie zu haben (da die Aufgabe für die linke Hand bestimmt war), doch die Homogenität der Gruppe hätte durchaus größer sein können.
Deshalb gilt es, beim Lesen der Studien genau zu beobachten, wie diese aufgebaut ist und inwiefern die Auswahl der Aufgabe zu den Versuchspersonen passt. Bei Sportstudien werden in der Regel homogenere Gruppen getestet: alle Spieler sind meistens auf demselben Fähigkeitsstand, aus demselben Team, aus derselben Liga, etc.
Eine Studie von 2012 von der Georgia Southern University untersuchte, wie geistige Anforderungen beim Üben das Lernen von Blasmusikstudenten beeinflussen: Differential effects of cognitive load on university wind students’ practice (2012) Unterschieden wurde hier zwischen Holz- und Blechbläsern sowie zwischen wiederholendem und zufälligem Üben. Die Ergebnisse zeigten, dass Holzbläser durch zufälliges Üben schneller und gleichmäßiger spielten, während Blechbläser bei wiederholendem Üben genauer und schneller waren.
Eine Studie von 2010, ebenfalls von der Georgia Southern University, untersuchte, wie verschiedene Übungspläne (Üben im Block versus zufälliges Üben) die Genauigkeit, Geschwindigkeit und Gleichmäßigkeit sowie die innere Einstellung von Anfängern im Ensembleunterricht beeinflussen. Bei Anfängerklarinettisten zeigte sich am Ende des Übens kein Unterschied zwischen den Gruppen. Später jedoch spielte die zufällig übende Gruppe deutlich schneller als die »blockiert« Übende, die sogar langsamer geworden war.
Im Falle von Instrumentalschülern erforschte eine weitere Studie aus 2010, wie drei verschiedene Übungspläne den Lernerfolg von Anfängern auf der Klarinette und dem Saxophon beeinflussen. Neunzehn Schüler der siebten Klasse übten einmalig 18 Minuten lang entweder mit einem wiederholenden, einem gemischten oder einem seriellen Plan (verschachteltes Üben), wobei der kognitive Störungsgrad zunahm. Es gab keine Unterschiede in der technischen Genauigkeit, der Einstellung zum Üben oder der Musikalität sofort nach dem Üben oder nach 24 Stunden. Allerdings zeigte sich eine signifikante Wechselwirkung zwischen Übungsart und Testdurchgang bei der Musikalität.
Die Ergebnisse einer Studie von 2016 aus der Memorial University of Newfoundland, Canada, zeigten, dass Stücke, die von fortgeschrittenen Klarinettisten abwechselnd (verschachtelt) geübt wurden, von einer Jury eher besser bewertet wurden. Abwechselndes Üben fördere zudem die Zielsetzung, Konzentration und Fehlererkennung bei den Versuchspersonen.
In einem weiteren Experiment aus 2013, Memory and metacognition for piano melodies: Illusory advantages of fixed- over random-order practice, geleitet im College of Charleston, USA, übten 25 Klavierspieler mit Vorkenntnissen diverse Melodien unter zwei Bedingungen: entweder in einer festen Reihenfolge, bei der sie eine Aufgabe mehrmals hintereinander übten, bevor sie zur nächsten übergingen, oder in einer zufälligen Reihenfolge, bei der sie willkürlich zwischen verschiedenen Aufgaben wechselten. Direkt nach dem Üben, sowie zwei Tage später, wurden ihre Fähigkeiten getestet. Interessanterweise zeigten die Ergebnisse, dass die Teilnehmer direkt nach dem Üben bei Melodien, die sie in fester Reihenfolge geübt hatten, schneller waren. Beim Test zwei Tage später schnitten sie jedoch mit den Melodien, die sie in zufälliger Reihenfolge geübt hatten, besser ab. Trotz dieser direkten Vergleichsmöglichkeit schätzten die Teilnehmer fälschlicherweise ein, dass das Üben in fester Reihenfolge zu einem besseren Memorieren führen würde. Dies deutete für die Studienleiter darauf hin, dass selbst ausgebildete Musiker manchmal die Leichtigkeit des initialen Lernens irrtümlicherweise als Maßstab nehmen, um ihre zukünftige Leistung vorherzusagen.
Welche Möglichkeiten gibt es, das Üben zu variieren?
Verschachteltes Üben ist ledigleich eine Form des variierten Übens. Anhand eines Beispiels stelle ich nun fünf verschiedene Übestrategien des variierten Übens vor.
Mal angenommen, wir bereiten ein Probespiel vor, und unter anderem gibt es sechs verschiedene Orchesterstellen auf der Liste, von denen wir heute drei üben möchten. Wir haben insgesamt 100 Minuten Zeit zum Üben und nehmen uns jeweils nach 30 Minuten eine 5-minütige Pause, insgesamt also drei Übeeinheiten zu 30 Minuten plus insgesamt 10 Minuten Pause.
Üben im Block: Wenn wir im Block üben, würden wir die Zeit gleichermaßen unter den Orchesterstellen aufteilen. Dann haben wir einen Block von 30 Minuten für Orchesterstelle A, danach 30 Minuten für Orchesterstelle B und danach 30 Minuten für Orchesterstelle C.
1) Verschachteltes Üben (Interleaved Practice, oder auch serielles Üben genannt): Beim verschachtelten Training üben wir die drei Orchesterstellen A, B und C in ausgewählten Abständen in derselben Reihenfolge. Das ergibt eine strukturierte, vorhersehbare Abfolge, bei der wir die Stellen A, B, C in genau dieser Reihenfolge, jeweils 9 Mal für jeweils 3 Minuten, üben.
2) Zufälliges Üben: Das zufällige Üben gibt vor, dass wir zwar das Üben verschachteln, aber zusätzlich variieren, in welcher Reihenfolge die Stellen geübt werden. Man kann ebenso die Zeit pro Passage variieren. Beispiel: Stelle A (3 Minuten), Stelle C (4 Minuten), Stelle B (3 Minuten), Stelle A (2 Minuten), Stelle B (4 Minuten), Stelle C (2 Minuten), usw. – Man kann die Reihenfolge im Vorfeld festlegen oder würfeln, damit wir das Prinzip der Zufälligkeit beibehalten.
Weitere Möglichkeiten, das Üben zu variieren, ergeben sich, wenn wir uns eine bestimmte technische Schwierigkeit anschauen wollten, beispielsweise nehmen wir dann Orchesterstelle A. Auch hier möchte ich das klassische “wiederholende Üben” am Anfang gegenüberstellen:
Konstantes Üben (wiederholendes Üben): Dieses besteht darin, eine bestimmte technische Schwierigkeit in derselben Variante immer wieder zu wiederholen (beispielsweise 5 Mal denselben Lauf zu spielen, oder dieselbe Repetition, etc.).
3) Variables Üben: Hier variieren wir einen Parameter der technischen Schwierigkeit vor jeder Wiederholung, entweder in strukturierter (serieller, siehe oben) oder zufälliger Art und Weise (siehe oben), beispielsweise variiert die Betonung beim Lauf, oder es variiert die rhythmische Figur, die Dynamik, etc.
4) »Wiederholen ohne zu wiederholen«: Hier verändern wir mehrere Parameter auf einmal vor jeder Wiederholung der technischen Schwierigkeit, indem wir uns selbst in unterschiedliche Situationen begeben, aus denen wir üben sollen: beispielsweise könnte man den Lauf im Stehen (versus im Sitzen) spielen, oder mit geschlossenen Augen, oder mit geneigtem Kopf zur Seite, etc.
5) Differenzielles Üben: Das Differenzielle Lernen ist ein Konzept von Wolfgang Schöllhorn für das Training im Spitzensport und besteht darin, die Selbstorganisation des Körpers zu aktivieren (versus zu versuchen, eine bestimmte Bewegung perfekt zu trainieren und auszuüben). Das differenzielle Üben würde eigentlich einen separaten Artikel benötigen, um es tiefgreifend zu erläutern; ich skizziere hier lediglich das Wichtigste dazu. In dieser Herangehensweise geht man davon aus, dass eine Bewegung nie genau gleich ausgeübt wird, sondern dass sich Variationen ergeben durch den jeweiligen Moment und den Zustand der Person. So wird beabsichtigt, dass durch gezieltes Trainieren von Variationen der Körper nach neuen Bewegungen suchen muss, durch diverse absichtlich gewählte Störfaktoren, die vorgestellt werden. Der Vorteil und auch der Grund, so zu trainieren, ist, dass wir eine große Flexibilität und Kreativität in unseren Bewegungen brauchen – im Falle der Musik ist nämlich genau das auch der Fall. Wir möchten schließlich, dass sich die Performance frisch und lebendig anhört, und unser Publikum wünscht sich das ebenfalls. Dahingehend ist das differenzielle Üben von Vorteil – es trainiert die Reagibilität des Körpers, die Fähigkeit, sich an neue Gegebenheiten nahtlos anzupassen. Hier verändern wir also mehrere Parameter auf einmal vor jeder Wiederholung der technischen Schwierigkeit, indem wir sie miteinander kombinieren und in ihrer Kombination variieren.
Meine Ansicht ist ebenfalls, genau wie Herr Schöllhorn aufzeigt, dass eine musikalische Bewegung nie genau gleich ausgeübt wird und sie stark von den Gegebenheiten abhängt: der Akustik, dem Zusammenspiel mit den anderen, ob Fehler kurz vorher da waren, der Stimmungszustand des Spielers, etc. Es muss also nicht gleich full force das differenzielle Üben sein, aber ein Training auf Reagibilität ist durchaus beim Üben mit einzuschließen und in manchen Fällen sogar zu bevorzugen, gegenüber einem wiederholenden Üben, das lediglich eine bestimmte Version der Musik trainieren und reproduzieren möchte.
Es bleibt noch ein Element, das zum variierten Üben gehört, und zwar das Hören. Bei uns Musikern ist Hören entscheidend für die Erzeugung von musikalischen Bewegungen, wie ich an anderer Stelle in meinem Blog erläutert habe: Es gibt einen Zugriff auf das Bewegungssystem des Menschen über das Hören. Der Hörsinn wird durch Studien im Spitzensport jedoch leider nicht abgedeckt (und, so viel ich überblicken konnte, auch nicht durch Studien im Bereich Musik). Ich möchte hier nicht zu tief in das Thema »Hören und Bewegen« reingehen, denn das wäre ein neuer Artikel.
Um die Ausführungen zum variierten Üben an dieser Stelle zu vervollständigen und das Thema Hören als Faktor des Übens verständlich zu machen, möchte ich auf die Tatsache hinweisen, dass Musiker in der Regel nicht immer am selben Ort musizieren: Üben, Proben, Aufnahmen, Wettbewerbe und Konzerte finden in unterschiedlichen Räumen statt. Diese Gegebenheit bringt mit sich, dass die Akustik des Raumes jeweils unterschiedlich ist und die Musiker andere Hörreize bekommen, um darauf zu reagieren. Daher müssen sich Musiker durch die wechselnden akustischen Bedingungen ihres Berufsalltags durchaus zwingenderweise mit dem Thema des variierten Übens auseinandersetzen, um dieser Gegebenheit angemessen begegnen zu können.
Dann bleibt noch die Frage zu beantworten, wie wir ein verschachteltes oder variiertes Üben einsetzen und vor allem, in welchen Situationen welcher Ansatz am günstigsten sein kann.
Wann nutzen wir das Üben im Block und wann das verschachtelte oder variierte Üben (Interleaved practice)?
Voraussetzung für den Erfolg einer jeden Übestrategie ist, dass wir uns beim Erarbeiten der Musik nicht über das hinwegsetzen, was eine grundsätzliche Klärung braucht. Die beste Übestrategie der Welt wird sinnlos sein, wenn wir nicht verstehen, was wir da spielen, oder es technische Herausforderungen gibt, die uns daran hindern, die Musik wiederzugeben. Es braucht also ein gutes Gespür für uns selbst und für den eigenen Lernprozess: uns selbst zuzuhören und entscheiden, ob wir verstanden haben, was wir hier üben sollen, ob etwas verbessert werden sollte. Daraufhin entscheiden wir, wie wir diese Fragen lösen oder klären. Keine Übestrategie kann uns diese Entscheidung abnehmen.
Der Prozess wird für jeden anders sein, wann eher ein Durchspielen geeignet ist, oder eher ein variiertes Üben. Grundsätzlich gibt es verschiedene Phasen des Übens, beginnend vielleicht mit einem Gesamteindruck – dieser kann über ein wiederholendes Üben (Üben im Block) etabliert werden.
Bald werden wir Passagen erkennen, die zu klären sind oder die eine technische Herausforderung darstellen, und hier können wir unterschiedliche Übetechniken des variierten Übens anwenden, um diese besser kennen zu lernen. Damit wir uns an etwas erinnern können, müssen wir uns damit intensiv beschäftigen. Ich zähle einige Beispiele des variierten Übens auf:
- Rhythmische Variationen
- Variationen in der Dynamik
- Variationen im Tempo
- Nur den ersten Ton einer Sechzehntelgruppe spielen
- Jede Sechzehntelgruppe etwas schneller und durch kurze Pausen gespielt
- Die Passage singen (für Instrumentalisten)
- Die Passage auf einem Instrument spielen (für Sänger), oder auf einem Zweitinstrument spielen (für Instrumentalisten)
- Rückwärts üben
- Rhythmisieren
- etc.
Darin könnte man zusätzlich das verschachtelte Üben einbringen.
Mit der Zeit werden die zu lösenden Herausforderungen sich verändern: die Fragen, die wir uns am Anfang stellen, wenn wir ein neues Stück beginnen, sind andere, die wir uns stellen, wenn wir fortgeschrittener im Lernstadium sind. Dadurch wird sich unsere Auswahl anpassen – welche Elemente bräuchten hier ein variiertes Üben und welche Elemente bräuchten ein Durchspielen oder ein Üben im Block? Das wird man entweder aufgrund der Erfahrung entscheiden müssen, oder wenn es keine Erfahrungswerte gibt, einfach ausprobieren und auswerten, ob es einen weiter gebracht hat.
Ein wichtiges Element in unserem Übeprozess ist, uns tatsächlich auch selbst »abzufragen« – das heißt, nicht wieder genau auf die gleiche Art und Weise die Passage (variiert oder wiederholend) üben wie beim letzten Mal, sondern probieren, uns selbst zu testen, wie effektiv diese letzte Übesitzung für uns war. So können wir erstens Muster in unserem Lernen erkennen und zweitens bessere Entscheidungen für zukünftiges Üben treffen. Über unser kurzfristiges Bedürfnis, uns im Moment des Übens wohl zu fühlen, vergessen wir manchmal die Notwendigkeit oder das Ziel, langfristige Übeerfolge zu erreichen. Denn nicht nur für "jetzt" üben wir, sondern für "später" – für den Moment, in dem wir entweder eine neue Stelle oder technische Schwierigkeit lernen werden, oder wir das Geübte wieder hervorholen sollen. Die Forschungen legen nahe, dass ein Üben “für später” (ein variiertes Üben) des Öfteren bessere Ergebnisse erzielt als ein Üben, in dem ich “jetzt” (in der Übesitzung) eine Kompetenz erreiche.
Ein Übetagebuch zu führen kann uns beim Übeprozess unterstützen, da wir oft unsere Lernzwischenschritte vergessen. Besonders, wenn wir zeitlich an eine Deadline gebunden sind (Wettbewerb, Konzert, Aufnahme, Probespiel, Prüfung) ist ein solches Übetagebuch zu bevorzugen, um das Üben zu dokumentieren und die Effektivität der Maßnahmen im Nachhinein auswerten zu können. Das kann ein einfaches Notizbuch sein, in dem wir unsere Gedanken nach jeder Übesitzung eintragen: was gut lief, was noch fehlt, womit wir beim nächsten Mal beginnen werden, etc.
Das verschachtelte Üben setze ich persönlich ein, wenn ich
- Klärung zwischen mehreren Passagen hervorbringen möchte
- Parallelstellen übe
- gegen Ende einer Vorbereitungsphase meine “besonders lieben” Stellen wiederholen möchte
- Mich daran gewöhnen möchte, mich schnell in verschiedene Stücke hineinzuversetzen
- Anfänge üben möchte (in dem Fall gibt es keinen Timer, sondern ich spiele die ersten Takte aller Stücke meines Programms hintereinander an)
- viele verschiedene Stücke lernen muss und die Zeit knapp ist
- etc.
Und darin setze ich variiertes Üben nach Bedarf ein, wenn ich merke, dass ich etwas noch nicht ganz verstanden habe.
Im Gegenzug übe ich im Block, wenn ich
- einen Gesamteindruck eines Stückes haben möchte (erstes Lesen und Durchspielen)
- dem einen Stück mal gebührend Zeit geben möchte
- ein Gefühl für die Stimmung im Stück bekommen möchte, also: Was bringt das Stück selbst mit, was gehört zu mir?
- einfach Durchspielen üben möchte
- etc.
Je näher jedoch das Konzert in der Zeit liegt, desto eher kann es sich lohnen, das Üben zu variieren, sogar den Zufälligkeitsgrad im Üben steigern. Dazu gab es eine interessante Studie im Bereich Basketball (Moderately skilled learners benefit by practicing with systematic increases in contextual interference, 2010), bei der es nicht nur eine Gruppe mit Üben im Block und serielles (verschachteltes) Üben gab, sondern auch bei einer der Gruppen der Grad an Zufälligkeit immer weiter gesteigert wurde. Die Ergebnisse beim Test, insbesondere 48 Stunden nach dem letzten Training, zeigten, dass die Gruppe mit dem steigenden Zufälligkeitsgrad am besten von allen drei Gruppen abschnitt.
Wie können wir mit dem “verschachtelten Üben” (Interleaved practice) beginnen?
Beginnen wir mit der inneren Einstellung, die es für das verschachtelte Üben braucht: Ich denke, wir müssen beim verschachtelten Üben akzeptieren, dass wir kein fertiges Ergebnis hervorbringen werden, bis der Timer klingelt. Das gehört zur Sache an sich.
Besonders, wenn wir nicht daran gewöhnt sind, mittendrin aufzuhören, möchten wir unser Gehirn daran gewöhnen, dass wir weiterziehen werden, bevor sich das Stück “fertig” anfühlt. Ich würde daher mit 10 Minuten Timern pro Stück oder Stelle beginnen; mit der Zeit kann man kürzere Zeitabstände einführen.
Einen Anfang können wir machen beispielsweise mit einem 10 Minuten Timer, und zwei oder drei Passagen oder Stellen, die wir bereit halten. Für ca. 30 Minuten ein Übeset gestalten, einmal pro Passage 10 Minuten. Nach einer kurzen Pause von ungefähr fünf Minuten (bei der wir uns bewegen, Wasser trinken, etc.) legen wir erneut eine Übesitzung von 30 Minuten ein, bei der wir die Passagen wieder hintereinander verschachteln. Das wäre eine Möglichkeit, zu beginnen.
Eine Möglichkeit wäre, zunächst erstmal einen solchen Übeblock am Tag zu gestalten mit dem verschachtelten Üben.
Wir können davon ausgehen, dass unser Gehirn weiter übt, selbst wenn wir etwas anderes spielen oder gar nicht musizieren. Darüber spreche ich in meinem Kurs »Music by heart« über Musik auswendig Lernen und Spielen. Dieses “versteckte Üben” ist eine Fähigkeit unseres Gehirns, die wir uns zunutze machen können.
Man kann mit der Zeit beginnen, diverse Variationen in diese Übesitzungen einzubauen. Beispielsweise wie bei Strategie 2, dem zufälligen Üben (siehe oben), könnten wir die Timer und die Reihenfolge der Stellen verändern.
Desweiteren können wir Strategien 3, 4 und 5 (siehe oben) in einem selben Übeblock anwenden, also einen oder mehrere Parameter verändern.
Es ist bestimmt eine gute Idee, täglich eine Übungsphase speziell für verschachteltes Üben einzuplanen und den Rest der Übezeit wie gewohnt zu gestalten. Wir können unseren Prozess und die Fortschritte in einem Übetagebuch dokumentieren, um die Unterschiede noch greifbarer zu machen.
Ganz gleich, wie viele Studien bereits diverse Übestrateigen erforscht haben, in Sport und Musik: Wir sind gefragt, eine Strategie für uns zu finden, die uns langfristig weiterbringt. Wir müssen abwägen, ob wir ein Gefühl der Kompetenz nach einer Stunde Üben nicht doch auch mal eintauschen sollten gegen ein wechselndes (verschachteltes oder variiertes) Üben, bei dem wir uns langfristig besser die Musik merken werden. Mit der Zeit wird unser Gehirn sich daran gewöhnen und wir werden immer mehr von dieser Übestrategie profitieren. Alles ist eine Frage des Erprobens und unserer Kreativität, um letzten Endes unser Üben interessant und spannend für uns selbst zu gestalten – und nicht zuletzt, um auf der Bühne das Gelernte verlässlich abzurufen.