Was kommt nach Rockstar? – Buchbesprechung »Die Träume anderer Leute« von Judith Holofernes
Vor sechs Jahren beschloss ich etwas, was ich niemals gedacht hätte: Ich hörte mit dem öffentlichen Konzertieren auf. Damals, Anfang 2019, bewegte mich zu diesem Schritt, genau diese Arbeit in Vollzeit zu machen, die ich heute mache: das Stärken von Musikern und das Schreiben von Büchern. Beides hatte ich 2014 begonnen und parallel zu allem anderen gemacht: Konzertakquise, Proben organisieren und durchführen, Üben, Klavier unterrichten. Alles gleichzeitig zu machen hatte mich ausgebrannt, ich konnte nicht mehr. Und gleichzeitig spürte ich, dass die Arbeit als Autorin und Flow-Flüsterin viel sinnstiftender für mich sein würde. Ohne zu wissen, wie ich jemals ein Buch veröffentlicht bekommen und von dieser Arbeit in Vollzeit leben würde, begann ich bereits Ende 2017, keine neuen Konzerte mehr anzunehmen, und 2019 war mein Kalender leer.
Seitdem bin ich in »Konzertpause«, so nenne ich das, und es klingt ein wenig so, als ob ich noch im Foyer stehe und der Sekt noch immer ausgeschenkt wird und ich nicht zurückkommen möchte in den Saal.

Versuch über die wahre Art, aus dem Showbusiness auszusteigen
In Judith Holofernes Buch »Die Träume anderer Leute« (KiWi, 2022), ist von einem ganz anderen Ausstieg die Rede. Die Band »Wir sind Helden«, deren Holofernes die Frontfrau war, erlebte 2003 einen der fulminantesten Aufstiege einer deutschen Rockband und galt als Vorreiter eines neuen deutschsprachigen Pop-Rock. Holofernes, die bereits als Kind Rockstar werden wollte, erreichte diesen Traum mit Mitte Zwanzig – und das schlagartig. Was passiert, wenn der Traum Wirklichkeit wird – aber das eigene Leben nicht mitkommt?
Das Showbusiness ist hier natürlich nur eine Metapher. Die wenigsten von uns steigen aus dem Rampenlicht aus – aber viele kennen das Gefühl, wenn die eigenen Ziele und die Erwartungen anderer nicht mehr zueinander passen. In diesem Sinn ist die Frage, die das Buch stellt, erstaunlich universell.
Holofernes schreibt über den schrittweisen Versuch, aus dem Business auszusteigen, über den Fluch und den Segen, den der frühe Erfolg mit sich brachte. Denn ein Leben unter Scheinwerfern war nicht nur wünschenswert für sie – sondern schwer vereinbar mit neuen Bedürfnissen. Holofernes und Schlagzeuger Pola aus der Band wurden bald nach der Gründung ein Paar – wenige Jahre nach dem fulminanten Erfolg auch Eltern. Sie versuchten einige Zeit lang, Familie und Tourleben zu vereinen. Holofernes schreibt:
»Die Kinder hatten sichtbar gemacht, was auch ohne sie nicht mehr lange gut gegangen wäre. Ich hatte viel zu viel gearbeitet, unter viel zu viel Druck. Ich war mir meiner selbst müde, meines Spiegelbilds, meiner Stimme, meiner Klugheit, meiner Knopfäugigkeit, meiner Omnipräsenz. Ich war müde, mich selbst als Produkt zu betrachten, und der Kontrast zwischen meinen Texten und all der Selbstausbeutung erschien mir immer zynischer. Ich wollte mein Leben zurück.«
Wenn der Ausnahmezustand das Vertrautere ist
Das ist die Geschichte, die in »Die Träume anderer Leute« erzählt wird – nicht den Aufstieg und Abschied von »Wir sind Helden«, sondern den Versuch, aus einem Rockstar-Leben etwas Eigenes zu machen. Doch nach dem letzten Bandkonzert, nach dem Treten auf die Bremse sind der Stress und die Zerrissenheit nicht vorbei – es kommen noch viel zu viele Mails, die Wohnung wird gründlich umgeräumt und entrümpelt, Kindergeburtstage müssen aufwändig organisiert werden. Schwer, ein neues Leben im eigenen Tempo zu finden, wenn der Ausnahmezustand die Norm ist.
Viele kennen diese Situation, das berühmte Loch, in das wir fallen, nachdem ein großes Projekt zu Ende gegangen ist: Eigentlich könnten wir jetzt entspannen oder uns dem zuwenden, was wir wirklich möchten – und dann tun wir’s nicht. Holofernes bringt es auf den Punkt: »Weniges ist so schwer zu ertragen wie die Freiheit [...]. Ein altes Selbstbild aufzugeben, selbst wenn es einem Schmerzen bereitet hat, ist tief beunruhigend.« Gerade weil es mit der eigenen Identität zusammenhängt, ist das Loslassen schwierig. Das gilt nicht nur für das Loslassen von einem hohen Stresspegel, sondern auch das Loslassen von negativen Glaubenssätzen, von schlechten Gewohnheiten, von alten Traumata. Wir sind es, die wir da loslassen möchten, uns selbst, und das ist das Schwierigste darin.
Doch Holofernes spürt, dass sie als Künstlerin noch mehr zu sagen hat; sie möchte ein Soloalbum aufnehmen. Auch dieses Comeback gestaltet sich als schwierig. So stark die Verhandlungsposition der Helden im Jahr 2002 gewesen war, da sie bereits vor dem ersten Recorddeal auf MTV gespielt wurden, so anders ist ihr Standing als Solokünstlerin jetzt. Denn für das Plattenlabel ist sie nicht mehr der Rockstar, dem der Erfolg zufliegt – sie ist dem großen Publikum unbekannt, muss jetzt beweisen, muss selbst bei der Plattenfirma überzeugen. Hier kommt meines Erachtens der eigentliche Kern ihres Prozesses zum Vorschein:
»Wie fast jede Künstlerin hatte ich lange Jahre damit gekämpft, mir selbst die Erlaubnis zu geben für das, was ich machen wollte. Hatte versucht, vor mir und der Welt zu rechtfertigen, dass ich diese verstiegenen Fantasien hatte. Und das, so wurde mir langsam klar, war die eigentliche Gefahr des frühen Erfolgs. Erfolg ist die ultimative Erlaubnis. Der Stempel, der Segen des Universums. Ein Gütesiegel, das besagt, dass das, was man da macht, richtig und wichtig ist. Dass man da hingehört, wo man ist, und dort auch bleiben darf. Wenn der Erfolg eintritt, bevor man diese Erlaubnis aus sich selbst heraus entwickeln konnte, dann ist man ihm heillos ausgeliefert. Und jetzt, wo der Rückenwind abflaute, fühlte es sich an, als entzöge mir das Universum die Lizenz. Die Vergabestelle war eindeutig unzufrieden mit mir, und die Leute, die mit mir arbeiteten, auch.«
Wer vergibt das Gütesiegel?
Von wem kommt dieses Gütesiegel – und wer sollte die Erlaubnis haben, ihn uns zu vergeben? Ich denke, wir kennen alle diese Frage, und sie ist für uns alle relevant, ob wir vor hundert Menschen auftreten oder vor hunderttausenden, ob wir auf einer Bühne stehen oder nicht: Wer sagt uns, dass wir gut genug sind?
Und sie führt zu einer tieferliegenden Überlegung: Wie stark ist unser Selbstbild – oder vielleicht auch unser Selbstwert – an das gekoppelt, was wir tun?
Vielleicht ist das der Punkt, an dem unsere Wege sich unterscheiden: Während Holofernes sich von außen anerkannt, aber innerlich nicht gestützt fühlte, spürte ich schon immer, dass meine eigene Erlaubnis ausreichte.
Nachdem ich meine Konzerttätigkeit beendete, merkte ich, zu meiner Überraschung, dass ich mich genauso wert fühlte wie vorher. Meine Identität war nicht ans Musikerdasein gekoppelt. Musikerin zu werden bedeutete mir alles, und auch wenn ich seit sechs Jahren nicht aufgetreten bin – ich bezeichne mich heute immer noch als Musikerin. Aber ich glaube nicht, dass ich heute weniger wert bin, nur weil ich nicht mehr auftrete, und das kann damit zu tun haben, dass ich »zu spät« mit der Musik begonnen hatte: Meine Identität war mit 17 auf anderen Grundsteinen gefestigt.
Träume und Identität – und was passiert, wenn sie sich verändern
Im Gegensatz dazu finde ich mein Identitätsgefühl im Schreiben, das muss ich ehrlicherweise zugeben. Nach dem ersten Buch schreibe ich das zweite, etliche weitere sind in Planung. Ich visiere eine lange Laufbahn an, nach über zehn Jahren weiterhin diese Facette zu kultivieren, mindestens auf die nächsten dreißig Jahre. Ein Leben, das nicht auf äußeren Erfolg zielt, sondern auf Tiefe und Kontinuität – das ist für mich ein nachhaltiges Leben, das mich und andere glücklich machen kann. Ich kann mit meinen Texten anderen etwas mitgeben, was ich in vielen Jahren Arbeit gelernt habe, und anderen wiederum Mut machen, ihren Weg zu gehen.
Der Traum, Musikerin zu werden, war damals für mich ein Bedürfnis – später trat ein anderes Bedürfnis in den Vordergrund: das nach einem Leben mit Fokus. Ich wollte meine Aufmerksamkeit wieder bündeln. Eine Alternative wäre gewesen, mit allem anderen aufzuhören und mich zu 100% nur noch dem Leben auf der Bühne zu widmen. Ich war jedoch nicht bereit, mit dem Unterrichten aufzuhören, das erschien mir als der weitaus größere Verlust – vor allem für mich. Ich ging diesem Bedürfnis nach Fokus nach und gab der Musik weiterhin einen Platz in meinem Leben, vielleicht mit weniger Ehrgeiz, aber mit derselben Verbundenheit und Dankbarkeit, dass ich mich täglich ans Instrument setzen und mich ausdrücken kann. Dankbarkeit an die junge Maria, die in der Musik den Weg zu sich selbst finden sollte. Doch das Konzertieren vermisse ich noch immer: Die Proben mit den anderen Musikern, das Vorbereiten der Noten (a.k.a. Kleben, unumgänglich als Cembalistin), das gemeinsame Gestalten, das gesellige Zusammensitzen nach einem Konzert. Ich hatte das Glück, meine letzten Jahre als aktive Spielerin mit einigen der feinsten Musikerinnen zu verbringen, die ich kenne. Ich durfte viele Werke spielen, die mir am Herzen liegen, und an Orten auftreten, an die der Normalsterbliche nicht herankommt – aber eben nicht die Hunderttausend-Bühne auf dem Festival, sondern das Kämmerlein mit historisch restauriertem Parkettboden im Rokokoschloss.
Träume können in Erfüllung gehen, und wir können sie loslassen und auch vermissen. Aber unsere Bedürfnisse entwickeln sich mit uns weiter – und sie zeigen uns, wohin unser Weg führen kann.
Auch Holofernes hat sich mittlerweile vom aktiven Musikleben verabschiedet. Sie schreibt an ihrem zweiten Buch, ist auf Patreon zu finden – ein Raum, in dem sie ihren Prozess sichtbar macht, wie früher einmal die Bühne ihre Musik. Von außen betrachtet scheint sie, ähnlich wie ich, ihr künstlerisches Schaffen in eine neue Form gebracht zu haben. Und auch wenn der Rahmen heute ein anderer ist, bleibt spürbar, wie viel von ihr darin weiterlebt.
Erfolg nach eigenen Maßstäben zu definieren ist möglich, doch braucht es dafür eine Art innere Stärke, eine innere Kraft, die uns halten kann, wenn der Boden unter den Füßen bebt.
Vielleicht geht es uns allen irgendwann so: Wir spüren, dass wir nicht mehr aus dem Foyer zurück in den Saal müssen, um uns selbst ernst zu nehmen. Dass wir nicht mehr auf ein Zeichen warten brauchen, um das Richtige zu tun. Womöglich ist es nicht immer einfach, den eigenen Bedürfnissen zu trauen, aber wir dürfen und müssen ihnen folgen – selbst wenn sie uns woanders hinführen als die Träume anderer Leute.