Die Kraft der Improvisation
Auf der Leinwand rühren sich zwei Gestalten in schwarzweiß. Thomas Hutter ist angereist, um mit Graf Orlok über den Kauf eines Hauses in Transsilvanien zu verhandeln. Er steht neben dem Schreibtisch und faltet den Kaufvertrag aus seiner Tasche heraus. Dabei fällt ein Gegenstand versehentlich auf den Tisch und erzeugt die Aufmerksamkeit des Grafen. Hutter, das verrät die Körpersprache, ist das sofort unangenehm. Es ist das Bildnis seiner Frau, auf das der Graf starrt. Lange rührt sich dieser nicht, bis er es schließlich in die Hand nimmt, Finger wie winzige Speere, als wäre das Bildnis mehr wert als das Anwesen, um das sie verhandeln. Er sieht auf das Bild und die Gesichtszüge scheinen weicher zu werden. Der gesamte Saal hält die Luft an, zusammen mit Hutter, der nicht in der Lage ist, ein einziges Wort herauszubringen. Graf Orlok zeigt mit seiner Klaue aufs Bild und sieht hoch zu Hutter: „Einen schönen Hals hat Eure Frau …“, sagt er, da bricht der gesamte Saal in Lachen aus. Und man hört das sogar auf der Aufnahme.
Im Jahr 2014 hatte ich das Glück, dieser einmaligen Performance beizuwohnen. Pianistin Gabriela Montero improvisierte an diesem Abend die gesamte Filmmusik von „Nosferatu – eine Sinfonie des Grauens“ (1922) am Klavier. Aufgeführt wurde es an der Komischen Oper Berlin, die Aufzeichnung ist noch hier auf YouTube zu sehen.
Es ist schon etwas Besonderes, einem Konzert beizuwohnen, von dem man weiß, dass diese Musik so nie wieder erklingen wird. Das gilt zwar idealerweise für alle Konzerte, aber für improvisierte Musik ganz besonders. Die Improvisation entsteht im Moment, ist die Folge des Zustands der Musiker, der Atmosphäre des Raumes und der Fähigkeit aller Beteiligten, sowohl auf der Bühne als auch im Saal, dem Geschehen neugierig zu lauschen.
Improvisationsfähigkeit bei Musikern früher und heute
Musikalische Improvisation galt einst als eine der höchsten Errungenschaften, nach denen ein Musiker streben konnte. Ad hoc über ein zugeworfenes Thema improvisieren zu können war beispielsweise ein Weg, wie Musiker ihr eigentliches Können und Kreativität bewiesen. Diese Zeit liegt über ein Jahrhundert zurück – damals Tagesordnung, heute Ausnahme. In der Praxis des Jazz und auch in der Alten Musik werden heute improvisatorische Fähigkeiten noch immer vorausgesetzt und kultiviert, doch im Bereich der klassisch-romantischen Musik verlor die Improvisation im Laufe des letzten Jahrhunderts an Bedeutung. An ihre Stelle trat zunehmend das Bestreben, ein Stück perfekt auszuführen. Neben Montero finden sich viele Beispiele von bekannteren und unbekannteren Künstlern, die improvisatorisch arbeiten. Doch die meisten Musiker der Klassik kommen mit dieser Kunstform nicht wirklich in Kontakt, denken sogar von sich selbst, dass sie nicht improvisieren können.
Der deutsche Pädagoge Heinrich Jacoby drückte es treffend aus, indem er sagte, dass wir zuerst sprechen, bevor wir Gedichte rezitieren, und dass es in der Musik genau dasselbe sein sollte: dass ein Kind sich musikalisch ausdrücken können sollte, bevor es ein bereits komponiertes Stück lernt.
Darf ich vorstellen: die freie Improvisation, um dieses und noch viel mehr zu erreichen.
Man könnte die freie Improvisation sowohl als vollendete Kunstform verstehen, wie auch als Werkzeug, um mit improvisatorischem Spiel überhaupt in Kontakt zu kommen. Es geht um einen freien Klang und um freien musikalischen Ausdruck, ohne sich an ein bestimmtes Genre oder musikalische Regeln anpassen zu müssen. Es geht darum, mit Klang auszudrücken, wie wir uns im Moment fühlen, mit unserer eigenen Musik.
Doch bevor wir damit beginnen, möchte ich über die Vorteile der Improvisation sprechen, und wie wir als Musiker der Klassik davon profitieren.
Improvisation, Kreativität und Blattspiel – und Untersuchungen dazu
Improvisation und Kreativität in der Musik ergänzen die Fähigkeiten technischer Ausführung und Blattspielen – alle diese Felder tragen zu einem vielseitigen und spannenden Musikerprofil bei. Die Korrelation zwischen Blattspielfähigkeiten und musikalischer Improvisation wurde anhand einer Meta-Analyse im Jahr 2013 festgestellt. Diese untersuchte 92 Studien, um zu sehen, wie verschiedene Faktoren das Blattlesen beeinflussten. Fähigkeiten wie Improvisation, Gehörbildung und technisches Können standen in enger Verbindung zum Blattlesen, während Persönlichkeit und Einstellung dabei keine Rolle spielten. Weiterhin ergab sich aus dieser Studie, dass Übung im Blattlesen mehr zählt als angeborene Fähigkeiten und dass Blattlesen eine übbare musikalische Kompetenz ist.
Letztendlich wird in beiden Feldern, Blattspielen und Improvisieren, eine schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit des Gehirns trainiert, was dem Vortrag von komponierten Stücken zugute kommt. Als Musiker können wir noch so viel im Vorfeld festgelegt haben – letztendlich passieren im Konzert unvorhersehbare Dinge, entweder auf oder hinter der Bühne. Wir müssen uns als Musiker darauf einstellen und reagieren können.
Bei einer Studie von 2008 mit professionellen Jazzpianisten wurde mittels funktioneller MRT festgestellt, dass musikalische Improvisation andere Gehirnareale anspricht als das Spielen gut einstudierter Stücke. Beim Improvisieren wurden bestimmte Bereiche des präfrontalen Kortex weniger aktiv, während andere Teile aktiviert waren. Dies deutet darauf hin, dass beim Improvisieren weniger Selbstkontrolle und bewusste Steuerung stattfinden. Außerdem waren sensomotorische Areale stärker und emotionale Areale weniger beteiligt, was auf einen Zustand hinweist, der spontane Kreativität fördert.
Eine weitere Studie untersuchte tatsächlich, wie musikalische Erfahrung und speziell das Training in Improvisation die Kreativität beeinflusst. Kreativität wird hier verstanden als die Fähigkeit, viele und originelle Lösungen zu einem Problem zu finden. Drei Gruppen wurden beim Lösen von Kreativaufgaben verglichen: Musiker mit Improvisationstraining, Musiker ohne solches Training und Nicht-Musiker. Die Improvisationsgruppe schnitt bei Ideenreichtum und Originalität am besten gegenüber den anderen beiden Gruppen ab, und die Wissenschaftler schlussfolgerten unter anderem, dass gezieltes Improvisationstraining die Kreativität steigern kann.
Überzeugt, dass es lohnenswert sein kann, der Improvisation eine Chance zu geben?
Wie können wir mit Improvisation beginnen?
Das erste, wovon wir uns als klassische Musiker befreien müssen, ist das Konzept von „falschen Tönen“. In der (freien) Improvisation gibt es keine falschen Töne, es gibt nur den Klang, der in dem Moment lebendig ist.
Eine Möglichkeit, mit Improvisation zu beginnen, ist mit nur einem einzigen Klang. Gehe von der Stille aus, und spiele oder singe dort hinein einen offenen, freien Klang. Bleib dabei, wiederhole diesen Klang, bis er völlig frei schwingt. Dann höre in dich hinein, welcher Klang danach gespielt oder gesungen werden möchte, und wiederhole diesen zweiten Klang, bis er lebendig und kraftvoll ist. Und so weiter. Folge einem Klang nach dem anderen und spiele die Musik, die jetzt und hier gespielt werden möchte.
In einer weiteren Möglichkeit kannst du rhythmische Muster und Texturen ausprobieren oder einfach mitgehen und dich von deinem eigenen Klang inspirieren lassen. Interessant ist es auch, mal die Hände irgendwo hin gehen zu lassen und von da aus die Musik fortzuführen, um aus den eigenen Mustern herauszukommen.
Freies Improvisieren und Flow
Abgesehen von der Einstellung, dass es keine falschen Klänge gibt, sollte lediglich eine wichtige Regel beachtet werden: „Plane nicht, was als Nächstes gespielt werden soll.“ Wenn wir mittendrin (oder im Anfang) sind, wollen wir in einen Fluss kommen, und sobald sich das kognitive Gehirn einschaltet, um zu überlegen, was gerade dazu passen könnte, sind wir raus. Auch Gedanken darüber, wie toll das jetzt war, bringen uns raus aus dem Fluss.
Musik ist ja eine emotionale Angelegenheit, insofern, als dass es darum geht, Emotionen zu transportieren oder auszudrücken. Da sind wir im Bereich der Körperintelligenz, sprich: der Körper und das emotionale Gehirn empfangen und verarbeiten die Information und reagieren entsprechend in dem Moment mit neuen Impulsen. Oftmals ist das so schnell geschehen, dass das bewusste Denken kaum mitkommt.
Daher ist mein Plädoyer, die freie Improvisation als ein Vehikel zu nutzen, mit dem wir Freiheit beim Musizieren erleben können, und dank der wir diese Freiheit in die komponierten Stücke mitnehmen. Was der Körper bewusst erfahren hat, das lernt er. Es geht also darum, zu fühlen und nicht zu denken, es geht darum, dem Fluss der Musik zu folgen. Flow kann auch über freies Spiel oder freien Gesang kultiviert werden.
Wie du freies Improvisieren in der komponierten Musik nutzt
Diese Freiheit, die du in der Improvisation erlangst, kannst du in das Üben deines Stück einfließen lassen: Beispielsweise kannst du so üben, als würdest du das Stück improvisieren. Du kannst mit Klangtexturen, Timing, Dynamik, Rhythmen experimentieren ... gönne dir den Luxus, nicht zu wissen, was kommt. Kenne dich selbst nicht zu sehr auswendig.
Eine andere Möglichkeit ist, nach spielerischen oder erzählerischen Elementen in der Partitur zu suchen. Zu entdecken, was der Komponist warum beschlossen hat, welche Wendungen ihn überrascht haben. Gibt es eine Erzählung hier? Welche musikalischen Figuren möchten eine Geschichte erzählen?
Du kannst auch das Stück nehmen und es beim Spielen verändern, sodass es ein völlig anderes Stück wird, sodass es dein Ausgangspunkt für eine neue Improvisation wird. Du nimmst dir eine Zelle und baust sie aus.
Freie Improvisation im Unterricht mit Schülern
Der beste Weg, etwas zu lernen, ist es zu lehren. Deshalb möchte ich dir ans Herz legen, die freie Improvisation mit deinen Schülern auszuprobieren.
Kinder improvisieren besonders gerne. Zum Beispiel im Einzelunterricht beginnt aus der Stille eine der beiden Personen, eine Note zu spielen. Die andere Person spielt die zweite Note dazu. Jetzt hast du zwei Noten, und du hörst, wie sie einen Klang bilden. Dann ändert die erste Person ihre Note, und es entsteht ein ganz neuer Klang. Wir laden ein, zuzuhören, wie das Ändern einer Note beeinflusst, wie die andere Note und der Gesamtklang wahrgenommen wird. Eine ausführlichere Anleitung findest du hier auf meinem Blog, zusammen mit 5 möglichen Anwendungen der freien Improvisation im Instrumental- und Gesangsunterricht.
Oder der "wilde" Ansatz: Du bietest deinem Schüler ein einfaches rhythmisches Muster an und sagst: "Lass uns einfach etwas spielen, egal was." Dann lass die Person einsteigen und schau, wohin es euch führt.
Interessant und aufregend beim Improvisieren mit anderen: Jeder Spieler kann gleichzeitig führen und folgen – seinen eigenen Ausdruck anbieten und trotzdem offen für Möglichkeiten sein. Ich sage oft zu Schülern: „Musikimprovisation ist der einzige Bereich, in dem wir gleichzeitig sprechen und verstehen können, was der andere sagt. Beim „normalen“ Sprechen muss man immer erst dem anderen zuhören, bevor man antworten kann. Hier geht das gleichzeitig.“
Gib es weiter: Entdecke für dich und deine Schüler diese Welt des persönlichen Ausdrucks, ohne Urteil, spaßig und spielerisch. Wer weiß, wohin dich das führt?
Weitere Beispiele von Musikern aus der Klassik, die mit Improvisation arbeiten
Gabriela Montero gehört zu den bekannteren Musikern der Klassik, die Improvisation im Konzert kultivieren. Sie kombiniert eigene Kompositionen und Improvisation mit dem Vortrag von komponierten Werken anderer.
Andere Beispiele finden sich beim Duo Igudesman & Joo, das Klassik, Humor und Referenzen zu Pop-Kultur miteinander verknüpft. Beispielsweise „A little nightmare music“ (hier der Trailer und hier die vollständige Performance).
Violinistin Hillary Hahn ging 2010 eine Kooperation mit Komponist und Pianist Volker Bertelmann ein, auch bekannt als Hauschka. Das Projekt erschien als Album 2012 unter Deutsche Grammophon, und ist „eine Hommage an den Silfra-Graben in Island, eine Landschaft, die die beiden Musiker dazu inspirierte, ein Werk zu schaffen, das suggestiv, hypnotisierend und wahrhaft atemberaubend ist.“ (Bertelmann) Hier der Trailer zu diesem Projekt, bei dem die Künstler einen Einblick in den Prozess gegeben haben.
In den letzten Jahren wurde das „Stegreif Orchester“ ins Leben gerufen, mittlerweile ein etabliertes Ensemble, das komponierte klassische Musik, Improvisation, diverse musikalische Stile, Szene und Choreographie miteinander verbindet. Sie nennen sich nicht umsonst „The improvising Symphony Orchestra“.
Musikerin und Komponistin Maria I.J. Reich veröffentlichte 2023 ein Buch über die (vergessene) Tradition des Improvisierens im Klassik-Konzert: "Mit Klassik spielt man nicht!"
Pianist und Komponist Michael Gees, dem größeren Publikum vielleicht als Liedbegleiter von u.a. Christoph Prégardien und Ingeborg Danz bekannt, führt diverse Programme auf, in denen er entweder alleine oder mit Spielpartnern improvisiert. Ebenso Mezzosopranistin Bella Adamova; beide Künstler haben bereits zwei Alben zusammen aufgenommen, die man hier anhören kann, das letzte Album aus 2023.
Wenn dir weitere Beispiele einfallen von Musikern aus der Klassik, die sich mit Improvisation auseinander setzen, schreibe mir gerne eine E-Mail, dass ich diese unter diesem Beitrag hinzufügen kann.