Es ist diese eine Stimme in unserem Kopf, die uns daran erinnert, dass jemand anderes besser ist als wir, oder dass wir nicht gut genug sind. Manchmal kommt der innere Kritiker aber auch mit Plattitüden um die Ecke, wie beispielsweise: Du musst es nur wirklich wollen. Im besten Falle ist der innere Kritiker die Instanz in uns, die uns dazu bringt, unser Bestes zu geben. Doch wenn er zu laut ist, kann er einen ganz schön in Unruhe versetzen, bis hin dazu, Panikattacken auszulösen.
Der innere Kritiker ist und bleibt, Punkt. Wir können ihn nicht abschalten, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir das anstreben sollten. Manche versuchen, ihn zu bekämpfen, was ihn meines Erachtens stärker macht, manch andere probieren, ihn zu beruhigen. Was ist also der beste Weg, mit ihm umzugehen? Hier ist eine persönliche Liste von 7 kreativen Strategien, gesammelt aus dem Internet und meinen eigenen Erfahrungen.
Strategie Nr. 1: Verhandle mit ihm den Zeitpunkt, an dem er sich melden darf.
Über Jahre durfte ich an einer größeren Institution bei Community-Musikprojekten mitwirken. Ein Phänomen wiederholte sich dabei: Die Chefin der Institution begab sich kurz vor dem Aufführungstermin in die Proben und gab ihren Senf dazu. Dadurch mussten wir im Team vieles umplanen, das Stresslevel stieg an und das Projekt wurde natürlich nicht unbedingt besser. Seth Godin nennt dieses Phänomen das "Reptiliengehirn" (oder auf Englisch: the lizard brain) - Godin erläutert in seinem Vortrag bei der 99u Conference 2015, wie beim kreativen Prozess das Reptiliengehirn kurz vor Beendigung eines Projektes einspringt (Godin nennt es "shipping" - Versand), um es zu sabotieren. Er schlägt als Strategie vor, mit dem inneren (oder äußeren) Kritiker im Vorfeld den Zeitpunkt zu verhandeln, an dem er sich spätestens geäußert haben muss - alles, was darüber hinaus geht, wird ignoriert werden. Seth Godin beschreibt auch, wie er sich seine kreativen Vorhaben gut überlegt, bevor er loslegt, und sie gleich im Anfangsstadium dem inneren Kiritker zum Fraß vorwirft - denn sobald er ein Projekt beginnt, wird er es fertig bekommen (also, "shippen"). Godin hat ebenfalls den Terminus geprägt von "merely ship it" (übersetzt ergibt es so etwas wie "bringe das Ding einfach raus"). Ich persönlich halte viel von diesem Ansatz - denn so konnte ich meine eigenen Unsicherheiten überwinden, als Musikerin vor Publikum zu spielen.
Strategie Nr. 2: Lass ihn einfach mal ausreden.
Mehrere Quellen weisen darauf hin, dass es sich beim inneren Kritiker um eine Internalisierung der Stimme unserer Eltern und Lehrpersonen handeln könnte. In der Absicht, uns zu vollwertigen Menschen zu erziehen, was auch immer dies in ihren Augen bedeutete, haben sie uns (manchmal sogar stetig) auf unsere Fehler oder die Fehler anderer hingewiesen. Die Psychologen Dr. Hal und Dr. Sidra Stone, Begründer der Arbeit Voice-Dialogue, schlagen vor, mit dem inneren Kritiker in einen Dialog zu treten. So können wir ihn und seine Kritik mit etwas mehr Objetivität begegnen und sie als etwas erleben, das von uns selbst getrennt ist. Ziel ist es, den inneren Kritiker zu akzeptieren und ihm Raum zu geben. Auf diese Weise fühlt er sich gehört, entspannt sich und entfaltet nicht mehr so eine große Kraft. Ich fasse diesen Therapieprozess hier stark zusammen. Dazu gibt es einen informellen Test: Wie stark ist dein innerer Kritiker? (auf Englisch).
Strategie Nr. 3: Lagere ihn aus.
Therapie ist nicht jedermanns Sache. Und Paul Ford brauchte dringend eine Lösung, um gegen seine Angstattacken anzukämpfen. Ein großer Anteil dieser Attacken bestand aus den strengen und fortwährenden Meldungen einer inneren kritischen Stimme in seinem Kopf. Da Therapie nicht gerade sein Fall war, beschloss Paul, mit seiner Fähigkeit als Programmier eine Lösung zu finden. Er baute sich also eine Webseite, die seinen inneren Kritiker externalisieren sollte. Er nannte sie Angstbox (Anxiety Box). Das Ganze funktikonierte so, dass es ihm tagsüber zufällige gemeine E-Mails schickte. Wenn er diese E-Mails las, kam die Kritik von einer externen Quelle. Er hatte den inneren Kritiker ausgelagert. Ford berichtete im Podcast ReplyAll, dass Anxiety Box durchaus positive Auswirkungen auf seinen Umgang mit seiner Angst hatte. Die Seite ist momentan nicht live, aber der Podcast mit Pauls Geschichte schon.
Strategie Nr. 4: Gehe in eine Co-Working Sitzung mit ihm.
Einen der erfrischendsten Beiträge zu diesem Thema ist ein Artikel auf dem Blog von 99u. Autor Mark McGuinness vertritt die Meinung, dass gerade die Verbesserung unserer kritischen Fähigkeiten uns ermöglicht, hochwertige kreative Arbeit zu leisten. Entgegen der weit verbreiteten Meinung glaubt er außerdem, dass es nicht realistisch ist, Ideengenerierung, -ausführung und -bewertung zu trennen. Er schlägt ein paar Experimente vor, um den inneren Kritiker auf unsere Seite zu ziehen und die Arbeit als gute Freunde gemeinsam zu erledigen, als Co-Working sozusagen. Eine Möglichkeit besteht darin, aktiv darüber zu reflektieren, wie viel wir unserer kritischen Fakultät zu verdanken haben. Ein anderer Weg besteht darin, dem Kritiker zu sagen: "Ich werde noch nicht wirklich anfangen, ich mache hier nur ein paar Skizzen (oder Tonleitern, oder Wiederholungen).“ Weiterer Vorschlag: dem Kritiker zu versprechen, dass wir die Arbeit später überprüfen werden, nachdem wir fertig geworden sind. Insgesamt macht McGuinness auf mich den Eindruck, dass er bereits eine gesunde Beziehung zu seinem inneren Kritiker hat - vielleicht gerade durch diese Co-Working Strategien?
Strategie Nr. 5: Mache aus ihm eine Stoffpuppe.
Das muss Jahre her gewesen sein: Ich hörte in einem Podcast über jemanden, der mit einer kleinen Stoffpuppe aus einem Ashram zurückkehrte. Anscheinend war der Sinn dieser Stoffpuppe, die dunkelste Seite der Person darzustellen. Sie wurde angewiesen, die Stoffpuppe die ganze Zeit bei sich zu tragen, bis sie mit ihrer dunklen Seite Frieden fand. Das Thema innerer Kritiker als Stoffpuppe ist auch sogar komerziell aufgefasst worden: Eine Frau in Berlin stellt Innerer Kritiker Stoffpuppen her, mit einem Reissverschluss als Mund, den man bei Bedarf schließen kann. Raffiniert, oder?
Strategie Nr. 6: Nimm du mehr Raum ein, durch größere Bewegungen beim Üben.
Der innere Kritiker wird ja eher dadurch angeheizt, dass dein Körper eng ist und die Räume darin klein sind. Stell dir vor, deine Geige ist 10 Meter lang, und du bist noch immer deine reguläre Größe. Wie würdest du das Mozart-Konzert darauf spielen? Du müsstest dich mit übertrieben großen Bewegungen beschäftigen, selbst Grupettos würden dich einige Mühe kosten, weil die Positionen so weit entfernt und deine Hand winzig ist. Versuche das mit einem Stück, das du gut kennst. Du hältst dabei das Instrument nicht wirklich, sondern spielst das riesen Ungetüm in der Luft. Was passiert dann? Wenn du mehr Raum für dich schaffst und konzentriert mit einer Aufgabe beschäftigt bist, hat der innere Kritiker weniger Gelegenheiten, sich zu melden. Er kann dabei nur glotzen - wie fernsehen!
Strategie Nr. 7: Begib dich beim Musizieren immer wieder in die Wahrnehmung.
Der innere Kritiker ist entweder ein oder aus. Dieser Punkt ist besonders für uns Musiker der Clou: Wenn du im Moment anwesend bist und das wahrnimmst, was gerade passiert (beispielsweise hörst du deinen Klang im Raum anstatt den idealen Klang in deiner Vorstellung), ist es fast unmöglich, gleichzeitig zu denken, denn du bist im Flow. Gerade in Flow-Zuständen ist der innere Kritiker außer Gefecht - du lebst, atmest, fühlst Musik - und sonst nichts. Der Kritiker ist von alleine still.
Beziehungsweise, der einzig nützliche Gedanke in diesem Moment ist: "[Dein Name], kehre bitte zur Wahrnehmung zurück."
Um das zu probieren, kannst du dich beim Musizieren mit einer dieser Fragen beschäftigen:
- Wie klingt der Raum?
- Wie nimmst du deinen Platz unter den Kolleg*innen in der Probe ein?
- Welche Gerüche nimmst du auf?
- Kannst du deinen ganzen Körper und nicht nur die Violoncello-Muskeln spüren?
Nimm dir nur eine von diesen Fragen und experimentiere damit. Schau mal, ob sie zu dir passt. Gib dir ein wenig Zeit, und wenn du nichts Spannendes findest, stelle dir eine neue Wahrnehmungs-Frage.