musikermedizin


Zunächst einmal möchte ich vorwegschicken, dass dieser Text auf meinen persönlichen Erfahrungen beruht, und zwar nicht als Patientin, sondern als Musikerin und Musikphysiologin - denn die Resonanzlehre, die die Basis meiner Arbeit als Musikercoach darstellt, ist angewandte Musikphysiologie.

In den vergangenen 7-8 Jahren hatte ich einige Gelegenheiten, diverse Veranstaltungen zum Thema Musikergesundheit und Musikphysiologie zu besuchen. Meine hier geschilderten Erfahrungen beziehen sich auf Beiträge, denen ich live zuhören konnte, daraus resultierende Diskussionen im Plenum, Roundtables, Posterbeiträge und persönliche Gespräche mit Musikphysiologen und Ärzte, die ich bei diesen Gelegenheiten kennengelernt habe.

Außerdem möchte ich auf zwei Dinge hinweisen: 1. Ich verwende die Begriffe Musiker und Musikerin in diesem Text möglichst alternativ, um das Lesen zu erleichtern. Und, mir sehr wichtig, 2. möchte ich alle Musikerinnen und Musiker darauf hinweisen, dass bei Verletzungen immer ein Arzt aufgesucht werden sollte. Mit diesem Artikel möchte ich die Perspektiven öffnen, was darüber hinaus alles möglich ist. Weil, es ist eine ganze Menge.


Lunge - Optimismus, Vertrauen - oder auch: Traurigkeit

Meine erste direkte Begegnung mit der Musikermedizin

2012 fuhr ich mit meiner damaligen Klavierschülerin, von Beruf Ärztin, zur Eröffnung der neu eingeweihten Abteilung für Musikermedizin an der Berliner Charité. Wir waren etwas spät und fanden unsere Plätze in einem großen Hörsaal mit Kapazität für vielleicht 300 Menschen, ganz hinten in der letzten Reihe. Es waren ungefähr 50 Personen anwesend, die meisten offensichtlich aus dem medizinischen Bereich: Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten.

Der Vortrag, den wir am allermeisten hören wollten, war der von Prof. Dr. Eckhart Altenmüller. Der war etwas später am Abend vorgesehen, und wir waren sogar rechtzeitig angekommen. Ich war richtig gespannt darauf. Altenmüller hatte schon in den 90er Jahren den Begründer der Resonanzlehre Thomas Lange sehr unterstützt, ihm für sechs Jahre sogar einen Lehrauftrag an der Musikhochschule in Hannover ermöglicht. 2012 war ich bei Lange in der Ausbildung zur Resonanzlehrerin und freute mich, nach dem Vortrag Prof. Dr. Altenmüller persönlich kennen zu lernen.

Prof. Dr. Altenmüller begann seinen Vortrag, indem er ein Video eines Violinisten zeigte, höchstens 18 oder 19 Jahre alt, der mit freiem Oberkörper und dem Rücken zur Kamera einige Töne auf der Geige spielte. Die Muskulatur im Rücken reagierte auf merkwürdige Art und Weise auf die Streichbewegung. Immer wieder „sprang“ der Trapezmuskel über die Schulter, und mir standen beim Ansehen davon die Haare zu Berge. Dieser junge Mann konnte offensichtlich vor Schmerzen kaum spielen.

Die Frage von Altenmüller in das Plenum: „Wo hat dieser junge Mann Schmerzen?“

Stille im Hörsaal.

Ich zeigte auf: "Hinter der rechten Schulter!“

"Richtig!", sagte Altenmüller.

Für mich war es bereits damals, noch in Ausbildung, sehr offensichtlich, wie Körper sich bewegen und wie Verspannungen, Verkrampfungen und Schmerzen sich auswirken. Mich wunderte, dass kein Arzt sich gemeldet hatte; ich hatte keine Sekunde gezögert. Die anwesenden Ärzte wussten es entweder nicht oder hatten sich nicht getraut, sich zu melden.

Altenmüller verriet dem Plenum die Diagnose des Patienten, die er damals stellte. Im Detail kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Wichtiger als die Diagnose des Patienten ist, was als nächstes kam.

Frage von Altenmüller in den Hörsaal: "Welche Therapie würden Sie ihm denn verschreiben?“

Da waren die Ärztekollegen schon eher meldefreudig. Eine der ersten Stimmen: "Cortisonspritzen!“, dann folgten Physiotherapie, Elektroschocks, diverse wiederholte oder ähnliche Meldungen dazu, und schließlich der Hinweis auf Unterricht in alternativen Bewegungsmethoden wie Alexandertechnik.

Beim Wort „Cortisonspritzen" wären meine Schülerin, die ja ebenfalls Ärztin war, und ich vor Schreck im Stuhl fast aufgesprungen. Dass Cortison gravierende Nebenwirkungen haben kann, schien niemanden dort zu stören.

Kein guter Anfang. Ich war gespannt, was Altenmüller dazu sagen würde.

"Das Erste, was ich tun würde und auch getan habe, ist den Patienten zu fragen, ob er überhaupt Geige spielen möchte."

Altenmüller erzählte die Geschichte des jungen Violinisten: beide Eltern Orchestermusiker, ebenfalls Geige, soweit ich mich erinnern kann, aus einem Land der ehemaligen Sowjetunion stammend. Er begann das Geigenspiel mit 3 oder 4 Jahren, eine überdurchschnittliche Begabung wurde früh festgestellt, und nach einigen Jahren intensiven Unterrichts wurde er mit 15 quasi nach Deutschland verfrachtet, um als Jungstudent an einer deutschen Musikhochschule seine Karriere zu beginnen, alleine in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht sprach.

Daraufhin begannen die Schmerzen, der junge Violinist versuchte, über sie hinweg zu üben, es wurde immer schlimmer, der Professor war scheinbar ratlos. Die Eltern versuchten, ihn zu motivieren, irgendwie konnte ihm keiner helfen, schließlich landete er nach einiger Zeit bei Prof. Dr. Altenmüller in der Praxis. Und dann eine ganz einfache Frage: "Sagen Sie mal, wollen Sie das alles hier überhaupt?"

Prof. Dr. Altenmüller ist nicht umsonst einer der führenden Musikermediziner im deutschen Sprachraum und darüber hinaus. Weil es so wichtig ist, dass der gesamte Mensch mit seiner Geschichte und seinen Gefühlen und Gedanken in die Heilung mit einbezogen wird. Die guten Mediziner wissen das.

Denn die Ursache für Verletzungen beim Spielen liegt darin, dass Musiker und Musikerinnen ihr emotionales Erleben und ihre emotionale Verbindung zur Musik von der körperlichen Tätigkeit abschneiden.

Und das erkennen in meiner Erfahrung wenige Angehörige der sogenannten anerkannten seriösen Heilberufe.


Warum mir dieses Thema wichtig ist

Die Resonanzlehre, die in Worten so schwer zu erklären ist (weil sie erlebt werden muss), steht hier in einem interessanten Kontext: Denn Resonanzlehre ist angewandte Musikphysiologie, das heißt, die Fragen, die an erster Stelle stehen, sind:

  • Welche Bewegung führt dazu, dass der Klang resonanzreicher wird?
  • Wie kommt die Emotion an das Ohr der Zuhörer?
  • Was brauchen Musikerinnen und Musiker, damit sie ihr volles Potenzial ausschöpfen können und nicht wegen Lampenfieber oder Schmerzen weit unter ihren Möglichkeiten bleiben?
  • Wie können Musiker sich bewegen, sodass Verkrampfungen und Schmerzen gar nicht erst entstehen?

Meine Aufgabe als Resonanzlehrerin besteht darin, Körper in Bewegung am Instrument zu erleben und den Klang zu hören, Bewegung und Klang miteinander in Beziehung zu bringen und anschließend günstigere Wege zu finden, dass die Musikerin die Qualität ihrer erlebten Erfahrung steigern kann und dadurch auch an einen für sie stimmigen Ausdruck und Persönlichkeit gewinnen kann. Darin besteht mein Alltag seit sieben Jahren. Mir ist es ein Anliegen, Musikerinnen und Musiker zu stärken.

Diese ist die Perspektive, von der ich auf das Thema Musikergesundheit schaue, und unter diesem Aspekt betrachtet, ist vielleicht nachzuvollziehen, wieso ich so kritisch mit einigen Praktiken in der Musikphysiologie bin. Bei den hier geschilderten Veranstaltungen musste ich mich oft innerlich zusammen nehmen, jedes Mal, wenn ich sah, dass die sogenannte Musikermedizin manchmal an den Musikern vorbei forscht, diagnostiziert und therapiert.


Niere - Angst, oder auch: Mut, Gelassenheit

Denn in erster Linie sind Musiker hoch spezialisierte Menschen, die auf die Gesundheit ihres (Entschuldigung für das Wort, aber so wird das in der Musikermedizin genannt, maschinen-like:) Spielapparats voll und ganz angewiesen sind. Da die Karriere von Musikern in der Regel sehr früh beginnt, machen sie weniger Erfahrungen in anderen Bereichen, die es ihnen ermöglichen würden, einen anderen Beruf auszuüben, außer vielleicht Unterrichten oder selbst Musikphysiologen zu werden (der Fall einiger, die ich persönlich kenne). Mal von der prekären Absicherung der meisten Musiker ganz abgesehen.

Durch die Abhängigkeit von ihrer Gesundheit, und der Prekarität, die der Musikerberuf sowieso mit sich bringt, sind Musiker sehr verletzlich: Wenn etwas ist, brauchen sie Antworten, und es geht oft um alles. Sie sind angewiesen auf den Rat der Ärzte, denn sonst könnte alles vorbei sein.

Klar, viele überkommt die Angst, dass es nicht mehr so wird wie früher, ob der Körper noch die Kurve schafft: "Kann ich nächsten Montag wieder spielen, ich habe doch eine Probe für die Tournee im Herbst!?“ Viele Musikerinnen schauen meines Erachtens erst auf ihren Körper mit Interesse, wenn eine Verletzung ihren Alltagsablauf gefährdet. Der Körper wird wenig gefühlt; es gibt zwar ein Bewusstsein dafür, dass es irgendwo seine Berechtigung hat, sich mit Bewegung zu befassen. Doch wenn es darum geht, ein Körpertraining zu praktizieren, um sich langjährig frisch zu fühlen, heißt es dann oft: „Ich habe dann keine Zeit zum Üben."

Warum wollen sich so viele Physiologen auf Musiker spezialisieren?

Musiker gelten ja als unglaublich exotische Wesen für den Rest der Bevölkerung, werden teilweise mit Ehrfurcht behandelt. Sie sind undurchdringlich, haben Fähigkeiten, die für andere wie Zauberei anmuten. Das Musikerdasein ist kryptisch, in vielen Fällen vor allem für die Musiker selbst. Die zweite Beobachtung, die ich gemacht habe, und die mir ebenfalls die Haare zu Berge stellt, diesmal auf der Seite der Ärzte und Physiotherapeuten: Manche Angehörige der Heilberufe finden es offensichtlich spannend, exotisch und aufwertend, mit diesen wunderbar geheimnisvollen Menschen, den Musikern, zu arbeiten. Sie beschließen, sich auf diese zu spezialisieren, ohne viel darüber zu lernen, was Musiker innerlich beschäftigt.

Warum ist das so wichtig, dass Musikphysiologen sich über das Körperliche hinaus in die Musiker hineinversetzen oder sogar aus eigener Bühnenerfahrung schöpfen? Ganz einfach: Weil Musiker andere Bedürfnisse haben als andere Patienten. Weil Musik machen etwas ist, was für viele fast intim ist und sehr mit der eigenen Emotion zu tun hat. Das ist auch der Grund, und warum Laien nicht verstehen, wie kompliziert der Prozess ist, neue Mitglieder in ein Orchester aufzunehmen. Warum man nicht einfach Vorstellungsgespräche macht und vielleicht ein halbes Jahr Probearbeiten wie in allen anderen Unternehmen. Die wenigsten verstehen, dass es sehr wohl etwas ausmachen kann, wenn eine Person ausgesucht wird, die nicht in die Stimmgruppe passt, weil vielleicht die anderen Musiker der Person menschlich oder musikalisch nicht vertrauen. Selbst wenn die Kandidatin eine top Musikerin ist - denn das sind sie, wenn sie sich vorstellig machen - in vielen Fällen wird nach der Probezeit von einem Jahr (!) die Musikerin nicht fest in das Orchester aufgenommen, und die ganze Sache geht von vorne wieder los. Musik machen ist ein persönlicher und emotionaler Prozess und das berücksichtigen wenige Musikermediziner.

Andererseits werden Musiker nicht nur nicht verstanden, sondern es wird manchmal glatt an ihnen vorbei geforscht.


Milz - Sorge, Grübeln - oder auch: Ausgeglichenheit, Mitgefühl

Knapp-Daneben-Studie Nr. 1: Kalte Hände vor dem Auftritt

Der Fall, dass manche Musiker kalte Hände vor einem Auftritt haben, ist vielleicht bekannt. In der russischen Schule wird auch ein „Kalte-Hände-Training“ durchgeführt, um das mal so zu nennen. Ich hörte von solchen Fällen aus dem Klavierbereich zu Zeiten meines Klavierstudiums: Pianisten sollten ihre Hände in Eiswasser tauchen und danach üben, oder gleich ein Konzert spielen. Vielleicht eine urbane Legende, doch da hat jemand gleich eine Studie dazu gemacht, und, Überraschung!, die Probanden waren Pianisten.

Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass kalte Hände das Klavierspiel nicht beeinträchtigen. Damit beginnt schon die Tragik, es wird später hoffentlich klar werden, warum.

Die Probanden wurden angewiesen, zunächst ganz normal Tonleitern zu spielen. Daraufhin wurden sie in mehreren Runden angehalten, ihre Hände in Eiswasser zu tauchen und abwechselnd damit immer wieder dieselben Tonleitern zu spielen. Das Wasser wurde dabei immer kälter, oder die Pianisten mussten die Hände immer länger in Eiswasser tauchen. Wie auch immer, das Ergebnis der Studie war: Tatsächlich, das Klavierspiel wird nicht beeinträchtigt, wenn Pianisten kalte Hände haben.

Sehr nett. Doch leider an den Bedürfnissen der Pianisten knapp vorbei geforscht.

Das Ergebnis einer Forschung beginnt ja bereits mit der Frage. Je besser die Frage, desto besser das Ergebnis. Wenn die Frage lautet, „Beeinträchtigen kalte Hände das Klavierspiel?“, und die Antwort „nein“ ist, können Ärzte ab jetzt den Pianisten sagen: „Sehen Sie, es wurde wissenschaftlich geprüft, dass selbst wenn Sie sehr kalte Hände haben, Sie genauso gut spielen können wie mit warmen Händen.“ Das nützt aber dem Erleben der Pianisten wenig. Im günstigsten Fall beruhigt sie das. Damit ist aber das Thema der kalten Hände nicht vom Tisch: mehr noch, es wird hingenommen, und sogar gefestigt, dass kalte Hände zum Klavierspiel gehören.

Was wäre, wenn die Hypothese lautete: "Kalte Hände bei Pianisten haben mit einer allgemeinen schlechteren Durchblutung zu tun. Kann das Phänomen der kalten Hände sich verbessern, oder gar verschwinden, wenn Pianisten Körperbewegungen durchführen, die die allgemeine Durchblutung des Körpers begünstigen?"

Klar dauert diese Studie dann länger, und vielleicht braucht sie dann etwas mehr Finanzierung. Doch damit wären wir der Lösung des Problems der kalten Hände ein Stück näher gekommen. Denn in meiner Erfahrung als Musikerin und als Musikphysiologin hat sich diese Hypothese bestätigt: Nach Ausüben über einen längeren Zeitraum der Körperübungen der Resonanzlehre stellt sich eine bessere allgemeine Durchblutung ein und die Hände sind vor einem Konzert nicht mehr kalt.


Leber - Wut - oder auch: Kreativität, Großzügigkeit

Und diese Dinge, muss ich zugeben, diese Knapp-Daneben-Studien regen mich tierisch auf. Weil, wie oben beschrieben, Musiker suchen in ihrer Not die Spezialisten auf, und vertrauen ihnen. Spezialisten, die manchmal leider noch eine fragmentierte Sicht auf den menschlichen Körper haben. Die Ansicht lebt weiter, dass hier und da ein Knopf gedrückt werden kann, sodass das Symptom verschwindet. Das ist bei niemandem der Fall, weder bei Musikern noch bei anderen Patienten. Es gibt immer eine tiefere Ursache, die über das Körperliche hinausgeht.

Die extreme Komplexität der Atmung bei Sängern

Die nächste Überraschung war für mich bei einer Roundtable zum Thema Atmung bei Sängern. Zuallererst entschuldigte sich die Leiterin der Roundtable beim Plenum: Da die Arbeitsgruppe beim Erstellen der Beiträge gemerkt hatte, wie extrem komplex das Thema Atmung ist, hatte sie beschlossen, sich für diese Roundtable auf Sänger zu konzentrieren. Die Blasinstrumentalisten mögen sich bitte, bitte bis zur Roundtable bei der nächsten Tagung gedulden.

Daraufhin begann die Dame ihren eigenen Vortrag, wie so viele Beiträge zur Atmung oder zur Physiologie von Sängern, die ich erlebt habe, mit der Aussage: "Eigentlich ist ja der Atemprozess eine ganz einfache Sache..." und auf der Leinwand ist schon die erste Folie zu sehen; eine Zeichnung, in der zu erkennen sind, schemenhaft: das Zwerchfell, die Lungen, der Hals und Rachenraum, der Kopf. Kein gesamter Körper, sondern nur vom Zwerchfell aufwärts. Und da beginnt das schon, wo die Meinungen sich scheiden, denn Atmung ist meines Erachtens ein gesamtkörperlicher Prozess, und, ja, es gibt Hauptakteure, und die Nebenakteure sind genauso wichtig, damit erstere ihre Funktion vollständig und sinnvoll ausführen können.

Das heißt, wenn schon zu Beginn der Roundtable die Basis aufgestellt wird, dass der Atemapparat (und wieder diese Bezeichnung, in der der Körper wie eine Maschine verstanden wird) etwas getrenntes vom restlichen Körper ist, klar, dass dann alles unglaublich komplex wird. Sobald wir versuchen, den Körper in Stücke zu zerteilen, wird die Sache immer komplexer. Und dann kann ich verstehen, wenn es heißt, „Leute, das Thema ist so riesig, dass wir erstmal nur über Sänger sprechen.“ Es ist einfach so schwer zu fassen.

Gibt es so etwas wie endgültige Patientenprofile?

Schwer fassbar wird es auch, wenn man versucht, Karriereprofile in Bezug auf Musikererkrankungen aufzustellen. Beispielsweise: Geiger, die mit 5 ihren Geigenunterricht angefangen haben und Instrumentallehrer an der Musikschule geworden sind, haben soundso viel Prozent mehr Wahrscheinlichkeit, dass sie von diesem und diesem Leiden an der rechten Schulter befallen werden. Ein Institut für Physiotherapie in Deutschland, spezialisiert auf Musiker, dessen Beitrag ich 2017 erlebte, versuchte zu jenem Zeitpunkt, anhand von ihren eigenen Patienteninformationen eine Art Profil-Datenbank aufzustellen. Welche Muster gibt es, wo sind Musiker am meisten gefährdet, usw. Das ist zum Einen total löblich, aber zum anderen mussten die beiden Physiotherapeuten, die den Beitrag gestalteten, zugeben, dass sie selbst nach Tausenden Patienten (!) nur wenige endgültige Profile aufstellen konnten. Und das wunderte mich nicht.

Denn obwohl es sehr wohl bereits Studien gibt, die solche Wahrscheinlichkeiten aufstellen, ist doch dann in der Praxis jeder Musiker individuell - Sehnenscheidenentzündung sucht Cembalisten wie Violinisten heim, doch das hat weniger mit der Bewegung oder Karriere als mit ihrem inneren Erleben und ihrer Einstellung dazu zu tun. Und das schauen sich zur Zeit meines Erachtens sehr wenige Musikphysiologen an; wenn sie das tun würden, würden sie schnell klare Muster und Profile erkennen.

Ich selbst habe meine eigene innere Kartei von Profilen mit den Jahren aufgebaut, doch sie basiert auf dem Innenleben der Musiker und nicht auf ihren äußeren Umständen. Denn es geht immer darum, wie wir als Kinder oder im Studium gelernt haben, mit Schwierigkeiten oder Druck umzugehen. Das bestimmt dann letztendlich die körperlichen Reaktionen. Viele meiner Klienten berichten mir nach unserer Zusammenarbeit, dass sie einen Zugang zu ihrem Spiel wiedergefunden haben, das sie aus der Zeit als Teenager noch kannten, das ihnen im Laufe der Jahre oder des Studium abhanden gekommen war. Dieses hat meines Erachtens mit der Unterrichtsweise an der Hochschule zu tun, die in vielen Fällen ebenfalls fragmentiert ist.

Knapp-Daneben-Studie Nr. 2: die Klarinettenbewegungen

Diese Studie wurde gleich an zwei verschiedenen Kongressen vorgetragen, zu denen ich anwesend war, und bezieht sich in erster Linie auf die Bewegungen beim Klarinettenspiel, unter einem Aspekt, den Musiker besonders interessiert: der Beziehung zu ihrem Publikum.

Dazu wurde die Spielbewegung von Klarinettisten mittels Bewegungssensoren auf Video aufgenommen, wie sie eine bestimmte kurze Passage spielten. Die Musiker hatten Sensoren am Kopf, Ellenbogen, Handgelenk, Knie, Fuß, etc., sowie an der Klarinette, wenn ich mich recht erinnere. Alle Klarinettisten sollten dieselbe Passage spielen. Bei der Analyse der Videos wurden vier verschiedene Bewegungsmuster vom Versuchsdurchführenden festgestellt: 1) diejenigen, die beim Spielen eher eine Auf- Abbewegung anboten, 2) diejenigen, die eher links-rechts Bewegungen ausführten, 3) diejenigen, die eine Mischung aus beiden vorherigen Mustern aufwiesen, und 4) diejenigen, die sich beim Spielen quasi gar nicht bewegten.

Daraufhin wurde für jede Kategorie ein Beispiel herausgesucht und diese „Strichmännchen“ Videos verschiedenen Menschen vorgespielt und sie gefragt, welcher Klarinettist für sie am Besten gespielt oder ihnen am meisten gefallen hatte. Und, damit die Zuschauer sich nicht etwa am Klang und der Musikalität orientierten, wurde dieselbe Tonspur allen Videos unterlegt.

Ja, und wieder, da beginnt es schon, dass der Versuchsausführende von sich aus drei Bewegungsmuster definiert hat (oben-unten, links-rechts und eine Mischung von beiden) und leider das wichtigste Bewegungsmuster außer Acht gelassen hat: Denn in der Resonanzlehrearbeit ist ausschlaggebend für Ausdrucksreichtum, ob die Wirbelsäule frei drehbar und beweglich ist und so die Spielbewegungen unterstützt - oder eben nicht. Diese Komponente außer Acht zu lassen wird natürlich das Ergebnis der Studie beeinflussen.

Das Ergebnis der Studie war: das Beispiel aus der Gruppe drei (die Mischung von oben-unten und links-rechts Bewegung) hat dem Publikum insgesamt am meisten gefallen. Kein Wunder, das war auch das einzige Beispiel, in dem die Klarinettistin ihre Wirbelsäule freigegeben hatte. Die Wirbelsäule kam aber als Bestandteil weder des Versuchs noch der Versuchsauswertung nie zur Sprache: es bleibt, wie alles bei Musikern, im Unergründlichen. Wir haben zwar gelernt, dass das Publikum Spielbewegung als angenehm empfindet, aber wie die Spielbewegung aussehen soll…? Einfach die Knie ein bisschen beugen und den Körper ab und zu von links nach rechts bewegen?? Das kann doch wohl nicht die Lösung sein. Es bleibt kryptisch für alle. Leider.

Auf den Spuren der Ursache der meisten Musikererkrankungen

2016 musste ich einem Vortrag beiwohnen, in dem ein Chirurg erläuterte, wie er bei Sängerinnen und Sängern die berühmten Knötchen und Zysten in den Stimmlippen behandelte: Er schabt sie ab. Ganz klar. Diese Art von Beiträge sind üblich bei Kongressen, im Sinne "Wie ich was mache oder gemacht habe", sodass die Kollegen davon lernen können, aber auch und vor allem im Fall, dass eine solche Patientin bei ihnen landet, dass sie ihr sagen können: "Dr. Soundso in der Klinik XY kann Ihnen ihr Knötchen abschaben." Dass damit die Ursache nicht behoben ist, wurde in dem Beitrag leider nicht thematisiert. Schade, denke ich da immer wieder. Denn der Chirurg selbst musste einräumen, dass manche Patienten nach einiger Zeit wieder in seiner Praxis landen. Wo finden wir also die Ursache?

Die Ursache vieler Musikererkrankungen liegt in den meisten Fällen bei der Abkopplung des emotionalen Erlebens der Künstler. Viele Musiker spüren sich nicht und bekommen nicht mit, wenn ihnen etwas nicht mehr körperlich gut tut. Oder der Fall von einigen Orchestermusikern die ich kenne, dass sie im Orchester das Gefühl des eigenen Gestaltungsspielraums verlieren und dadurch innerlich beim Spielen nicht mehr anwesend sind. Über das Mobbing in Orchestern brauche ich gar nicht erst anzufangen: eine weitere Ursache für die Leiden vieler Musiker, die sich angesichts der Situation überfordert fühlen und sich, auch hier, innerlich abschotten müssen, um am Arbeitsalltag teilnehmen zu können.

Und sobald eine Musikerin beginnt, sich innerlich mental oder emotional abzuschotten, verliert sie den Bezug zu ihrem Körper und zu ihrem emotionalen Erleben von Musik.

Und das ist meines Erachtens der Kern dieser gesamten Frage, die mich in diesem Text beschäftigt, und die Prof. Dr. Altenmüller sehr präzise in seinem oben genannten Beitrag herausgearbeitet hatte.

Was Musiker brauchen, ist eine Musikermedizin, die diesen inneren Aspekt in die Gleichung mit einbezieht. Die einen ganzheitlichen Blick auf den Musiker in seinem inneren Erleben von Musik und auch auf den Musikerkörper hat.


Herz - Freude, Respekt - oder auch: Raserei, Ungeduld

Doch hier soll es nicht nur um Knapp-Daneben-Studien gehen; ich möchte hier auch noch eine Studie hervorheben, die ich persönlich sehr geglückt finde. Und zwar am Freiburger Institut für Musikermedizin, durchgeführt von Leiterin Prof. Dr. Claudia Spahn.

Eine gute Lampenfieberstudie

Die Studie bezog sich auf das Thema Lampenfieber, und insbesondere auf Lampenfieber bei Probespielen. Wie oben erwähnt, sind Probespiele derzeit das bekannteste Verfahren, das wir kennen, um neue Kollegen in das Orchester aufzunehmen. Doch das Prozedere macht niemanden glücklich, weder die Kandidaten noch die Orchestermitglieder selbst. Insbesondere sind erstere gefordert, innerhalb von wenigen Minuten die Jury von ihrer Präzision und Musikalität zu überzeugen. Viele schaffen es nicht, nach teilweise langen Zeiten im Warteraum (wo die anderen Kollegen wie wild sich schonmal eingeigen) auf einmal auf ihre 100% zu kommen und ihre Qualität zu zeigen. Der Druck, der sich im Vorfeld aufbaut, ist einfach zu stark.

Deshalb wollten die Initiatoren der Studie ermitteln, inwiefern ein 14-wöchiges Trainingsprogramm zum Thema Lampenfieber und dessen Lösungsmöglichkeiten die Kadidaten dabei unterstützen kann, ihr Lampenfieber zu optimieren oder sogar zu kontrollieren.

Es wurde zu Anfang der Studie ein gestelltes Probespiel mit Fachjury organisiert, an dem sowohl die Versuchsgruppe als auch die Kontrollgruppe teilnahmen (außerdem mussten alle Kandidaten einen Fragebogen ausfüllen). Die Teilnehmer der Versuchsgruppe erhielten im Anschluss daran ein 14-wöchiges Trainingsprogramm, in dem sie sich jede Woche entweder durch Workshops, Körperbewegungen, Gesprächsrunden und Treffen mit erfahrenen Musikern in Solistenpositionen mit dem Thema Lampenfieber auseinandersetzten. Die Teilnehmer der Kontrollgruppe nahmen an diesen Veranstaltungen nicht teil. Nach den 14 Wochen wurde ein erneutes gestelltes Probespiel vor einer Fachjury durchgeführt, ein erneuter Fragebogen ausgefüllt, und die Ergebnisse waren eindeutig: Die Versuchsgruppe hatte im Vergleich zur Kontrollgruppe ihr Lampenfieber deutlich reduzieren können. Das freute mich zu hören: Ja, auch in meiner Erfahrung als Resonanzlehrerin kann Lampenfieber reduziert und sogar aufgelöst werden.

Lustig fand ich da nur die Aussage am Schluss von Prof. Dr. Spahn, dass sie dann doch überrascht war, dass die Kandidaten der Versuchsgruppe nicht nur ihr Lampenfieber hatten reduzieren können, sondern zusätzlich, laut der Fachjury, ihr Spiel musikalisch gesehen interessanter und lebendiger gestalten konnten. Dass beide Dinge miteinander zusammenhängen, hat Spahn überrascht: Leider wurde noch nicht wirklich der Bezug erkannt zwischen körperlicher Verfassung und musikalischer und künstlerischer Qualität - für mich ist das so eng verknüpft, dass es nicht zu trennen ist. Das ist ein wichtiger Schritt, den es bei den meisten Musikphysiologen und auch bei vielen Musikern selbst noch braucht.


Wie können wir einen Schritt aufeinander zugehen?

Mein Appell ist daher, falls das noch nicht klar geworden ist, dass sowohl Angehörige der Heilberufe als auch die Musiker und Musikerinnen einen Schritt aufeinander zugehen müssen, um der Auflösung von Musikererkrankungen ein Stück näher zu kommen.

Musikphysiologen brauchen einen ganzheitlichen Blick auf den Musikerkörper und auch auf den gesamten Musiker an sich; seine Entwicklung am Instrument bereits seit Kindesalter, wie er mit Druck und mit Konkurrenz umgeht, seine inneren Werte, Sorgen und Ängste, und was ihn bewegt. Ich möchte Musikphysiologen einladen, mit Musikern ins Gespräch zu gehen, um zu erfahren, was die eigentlichen Bedürfnisse sind. Wir sind darauf angewiesen, dass Sie in Ihrer forschung und Diagnostik bessere Fragen stellen.

In unserer Gesellschaft geben viele gerne ihre Verantwortung ab - der Staat kümmert sich um vieles, das wir einfach abgeben können, die Lehrer sagen uns, was zu tun ist, wir holen uns die Meinung einer Ärztin, wenn wir uns nicht wohl fühlen. Es ist sehr wichtig, zur Ärztin zu gehen - doch Musiker sollten nicht aufhören, für sich selbst zu denken, wenn sie die Musikermedizin aufsuchen.

Musikerinnen und Musiker möchte ich einladen, mehr über ihren Körper zu erfahren, ihn tiefer zu verstehen und dadurch sich einen größeren Schatz an Ressourcen heranzuholen, nicht nur zur Prävention, sondern weil es einfach riesigen Spaß macht, im Einklang mit dem Körper zu musizieren.

Musizieren und Üben kann einfach auch nur körperliche erfrischend sein, frei, leicht. Ist der Weg erstmal in diese Richtung offen, rollt der Ball immer schneller, es wird immer einfacher, sich beim Musizieren körperlich zu regenerieren.

Auch wir Musiker sind gerufen, uns bessere Fragen zu stellen. Wir sind letzendlich für unsere Gesundheit in der Verantwortung.

Vielen, die hier lesen, ist bereits klar, wie sehr sich das auf die eigene Spielqualität und die körperliche Gesundheit auswirkt, und auf den Ausdrucksreichtum, der Musikern zur Verfügung steht, wenn sie ihren Körper als erstes Instrument verstehen.

Jetzt gilt es, dieses auch in die Tat umzusetzen.





Fünf Wege zum Flow







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