Unsicherheit entsteht, wenn es einen Impuls gibt, und wir daraufhin einen Moment innehalten, ihn zu überdenken. Im Englischen heißt das auch “second thoughts”. Dieses Überdenken führt zur Unsicherheit. Beispielsweise: wir möchten uns für ein bestimmtes Probespiel bewerben, doch dann kommen Zweifel: “Bin ich bereit? Kann ich das Probespiel gewinnen?“. Dauert dieser Prozess zu lange, entsteht in uns Unsicherheit. Beim einen entsteht diese dann im Zuge der Vorbereitungen auf das Probespiel, beim anderen kommen die Zweifel noch bevor die Bewerbung abgeschickt wird. So oder so setzen sich diese “second thoughts” auf den Impuls oben drauf, sodass er sich nicht verwirklichen kann:



Für mich ist also das Überdenken, als ob wir einen Deckel auf diesen Impuls halten, der von oben kommt. Wir sagen manchmal auch “Ich fühle mich gedeckelt“. Dieses Gefühl entsteht, wenn jemand anderes die “second thoughts“ für uns übernimmt, warum wir nicht das oder jenes machen sollten.

Wie können wir dann dieses Unsicherheit auflösen? Ich möchte ein paar Beispiele aus meiner Erfahrung geben, die dazu führten, dass ich meine Unsicherheiten mithilfe anderer Menschen auflösen konnte.

Die Unsicherheit, vor anderen zu üben

Als erstes muss ich über meinen Klavierprof in Barcelona sprechen. Als ich in seine Klasse kam, war ich 22 Jahre alt. Ich hatte, obwohl ich erst spät mit dem Klavierspielen angefangen hatte und des ganzen Drum und Drans die Zulassungsprüfung bestanden. Es waren etwa zwölf Pianisten in seiner Klasse. Ich spielte grad mal seit fünf Jahren Klavier, und das war schon eine Herausforderung, unter Kommilitonen zu sein, die alle mindestens 10-15 Jahre mehr Klaviererfahrung hatten als ich. Üben in der Hochschule war für mich eine Qual, denn ständig gingen mir Gedanken durch den Kopf wie: was ist, wenn jemand vom Flur aus mit zuhört und merkt, wie schlecht ich spiele? Nein, nein, nein. Es war schlimm für mich, jeden Tag mit diesen Ängsten quer durch die Stadt in die Hochschule zu fahren.

Was mein Prof dann gemacht hat? Teil seines Unterrichtskonzepts waren sogenannte Klassenstunden, in denen sich die gesamte Klasse etwa alle 6 Wochen zu einem Thema zusammenfand. Eine der ersten Klassenstunden betraf das Thema des Pflichtstücks. Mein Prof gab nämlich am Anfang des Semesters der ganzen Klasse ein internes Pflichtstück. Das war meistens ein Satz aus einem Stück des 20. Jahrhunderts. Meine erste Klassenstunde war ein Schock: Jeder von uns wurde der Reihe nach aufgefordert, das Pflichtstück, das natürlich alle anderen auch gerade übten, 10 Minuten lang vor der Klasse zu üben. Nicht nur das, zuerst sollte man auch ein paar seiner eigenen Aufwärmungsübungen spielen, denn es war ja früh am Morgen und die meisten hatten ja noch nichts gespielt. Anschließend, falls sich das noch nicht als reinste Qual erwiesen hatte, wurde das Üben eines jeden vor der Klasse besprochen und er gab Tipps für effizienteres Üben, für bessere Übestrategien.

Diese eine Klassenstunde war der Knaller für mich. Es kostete mich einige Überwindung, da rauszugehen und mich zu zeigen, aber ich tat es, und wie bei den anderen war mein Prof geduldig, kompetent und konstruktiv. Und ich stellte fest: alle anderen hatten dasselbe Problem! Alle genierten sich, vor den anderen zu üben, viele konnten auch gar nicht so gut üben, und trotzdem konnte jeder etwas Wertvolles an diesem Tag mitnehmen und vor allem das Gefühl: wir sind hier vereint, wir machen das zusammen, jeder von uns hat seinen Weg und wir haben alle unsere kleinen oder großen Unsicherheiten, das ist in Ordnung so. Das war so kraftvoll. Im Laufe meines Studiums wurden diese Klassenstunden zu dem Ort, an dem nach und nach mein Selbstvertrauen wuchs. Letztendlich half mir das, über mich hinaus zu wachsen.

Die Unsicherheit, nicht vorbereitet zu sein

Als zweites möchte ich Vorspiele ansprechen. Mein Prof setzte etwa alle 2 Monate Termine für Klassenabende an, in denen bestimmte Pflichtstücke zu spielen waren (entweder das 20. Jahrhundert Pflichtstück oder etwas anderes, beispielsweise ein Präludium und eine Fuge von Bach), ganz egal, wie gut man vorbereitet war. Mein Prof wies uns explizit an, dass es wichtig war, zu spielen, egal ob das Stück fertig geübt war oder nicht. Du musstest da raus auf die Bühne und das Stück vertreten, so wie es stand. Kein “versuchen, perfekt zu sein“, nur “Go, go, go” und zu sich selbst stehen. Er stellte den Raum zur Verfügung, in dem es tatsächlich in Ordnung war, nicht perfekt zu sein. Er sagte oft: “Wann denn jemals hast du zwei Jahre Zeit, um ein Konzert vorzubereiten?“ Mit seinen Methoden war er nicht sonderlich beliebt am Konservatorium. Die anderen Profs zogen es vor, tatsächlich quasi zwei Jahre lang mit den Studenten an denselben Stücken zu arbeiten. Klar spielten die dann fantastisch. Doch ist das realitätsnah? Wie kann das mit den Anforderungen unseres Berufs “im richtigen Leben“ bestehen, wo hat das Platz? Ist eine Hochschule nicht nur dafür da, dich auf dem Weg zur künstlerischen Reife zu unterstützen, sondern auch mit den Werkzeugen auszustatten, die notwendig sind, um dein Leben als Musiker sinnvoll zu bestreiten?

Das konnte ich aus meinem Studium mitnehmen: einen größeren Mut, Dinge zu wagen, meinen Impulsen zu folgen, und zu mir selbst zu stehen. Üben in der Hochschule war ab dem Zeitpunkt gar kein Thema mehr. Vorspielen forderte mich hier und da noch heraus, doch ich konnte mich zeigen, ich konnte zu mir stehen, und ich setzte meinen Selbstwert nicht in meine Vorspiele, der Raum war ja dafür geschaffen worden. Meine Zeit mit meinem Prof hat so einen Unterschied in mir gemacht, und ich danke ihm im Stillen noch jetzt dafür. Er war so großartig. Was für eine Reise, denke ich mir, und was für ein Glück, von ihm begleitet worden zu sein. Das ist nicht jedes Menschen Erfahrung, das höre ich auch immer wieder in meinen Einzelcoachings. Deshalb ist es mir auch wichtig, gerade diese Arbeit in die Welt zu bringen, die die Musiker unterstützt, Impulse von innen nach außen zu leben, sei es persönlich oder künstlerisch.

Was wir brauchen, um Unsicherheit aufzulösen

Das bedeutet, um eine Unsicherheit aufzulösen, brauchen wir entweder einen Raum, in dem der Impuls wertfrei stattfinden kann, oder wir brauchen einen Moment, in dem entweder das Überdenken nicht mehr stattfinden kann oder der Impuls so groß wird, dass er das Überdenken, das “Deckeln“, sprengt.



Dann kann der Impuls auch ausgedrückt werden. Und vor allem brauchen wir einen Menschen, ein Gegenüber, der einen Raum schaffen kann, in dem der Impuls stattfinden kann; ein Mensch, der den Impuls aufnehmen kann, der ihn spiegeln kann, sodass ein Kreislauf entsteht, sodass Bewegung entsteht, dann gibt es die Möglichkeit für Veränderung, sowohl innen als auch außen.




Fünf Wege zum Flow







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