Letzten Frühling gab ich ein größeres Webinar zum Thema »Das Nervensystem im Instrumental- und Gesangsunterricht«. Dort wurde im Chat eine Frage gestellt, auf die ich wegen Zeit und Umfang nicht tiefer eingehen konnte:

Auf diese Frage möchte ich in diesem Beitrag ausführlicher antworten.

Zunächst einmal fragte ich im Webinar nach Kontext – um welche Situation geht es hier? Die Frage »Wie geht Abgrenzen?« ist meines Erachtens sehr allgemein formuliert, ähnlich wie »Wie geht Klaviertechnik?« – es gibt keine pauschale Antwort darauf. Grenzen setzen ist nichts Pauschales. Die Person konnte mir in dem Moment nichts dazu sagen. Erst später, im E-Mail-Austausch mit ihr, erfuhr ich, was sie damit gemeint hatte.

Sie wünsche sich allgemeine Tipps, wie sie bei ihren Schülern Grenzen setzen kann – sie sei nach dem Unterrichten immer so richtig geplättet. Sie habe schon die Stunden reduziert, aber noch immer sei Unterrichten anstrengend. Stets dieselben kleinen Schritte aufzuarbeiten, einen Takt, dann nur noch zwei Töne, lief ins Endlose hin. Die Kinder zeigten keinerlei Fortschritte – selbst nach mühsamen Erarbeiten in der Stunde schien die Woche darauf alles wie weg zu sein. Das Nicht-Voran-Kommen sei das, was sie so schlauche.


Dem Kreislauf des Energiesaugens ein Ende bereiten

Hier mag es auch vielleicht um Unterrichtsführung gehen, aber die Frage zeigt ja doch auf, dass die Person es nicht schafft, dem Kreislauf des Energiesaugens ein Ende zu bereiten. Das wäre dann der Moment, Grenzen zu setzen.

Grenzen setzen ist kein Katalog von Phrasen, die man sich zurecht legt. (Wobei, für den Anfang geht das bestimmt.) Es braucht erstmal ein Gefühl dafür, wo die Grenze ist. Wenn ich es jedoch nicht merke, wo meine Grenze ist, bekomme ich es auch schwerer mit, wenn sie überschritten wird. Vielleicht erst nach einiger Zeit gefüllt mit permanenten Grenzverletzungen.


Grenzüberschreitungen sind bei Weitem nicht so lustig wie bei alten Comedy-Streifen. 🎞


Wie sieht das aus, wenn im Unterricht Grenzen überschritten werden?

Ich habe weiter unten einige Beispiele aufgezählt, sowohl bei Schülern als auch bei Lehrern. Denn wenn wir nicht merken, dass der Schüler unsere Grenze verletzt, könnte es sein, dass wir auch nicht merken, wenn wir ihre verletzen. (Und das kann auch in Kontext mit anderen Menschen passieren, nicht nur im Unterricht.)

Eine Grenze wird immer nur im Kontext überschritten. Bei manchen Schülern können wir hier und da ein Auge zudrücken, weil wir um ihre aufrichtig positive Einstellung im Instrumentalunterricht wissen. Bei manchen anderen fühlen wir uns, als geben wir ihnen den kleinen Finger und sie nehmen gleich die ganze Hand. Um diese Situationen soll es hier gehen.

  • Grenzüberschreitungen seitens der Schüler (Der Lehrer wird unbewusst als Objekt betrachtet.)

    • oft zu spät kommen
    • oft zu spät absagen oder gar nicht erst kommen
    • weiterzuspielen, obwohl du gerade mit ihnen sprichst
    • sich ohne Grund auf den Boden zu werfen (selbst, wenn Kinder keine Lust auf den Unterricht haben, ist das kein Grund, sich auf den Boden zu werfen)
    • “Mach mal!” Aufforderung, dass du dem Schüler etwas beweisen sollst (gilt nicht für einen spielerischen Kontext)
    • Permanente Einstellung: “Mir doch egal” im Unterricht
    • plötzliche aggressive Reaktionen »was glotzt du so?«
  • Grenzüberschreitungen seitens der Lehrer (Der Schüler wird unbewusst als Objekt betrachtet.)

    • im Unterricht essen
    • Persönlich werden (“Du hast ein Problem, weil...”)
    • dem Schüler das Gefühl geben, nicht richtig zu sein (”du kannst das nicht”); auffordern, mit der Musik aufzuhören
    • mit Unheil drohen (”wenn nicht... dann...”)
    • bei Fehlern der Schüler sich von ihnen distanzieren und bei Erfolg der Schüler sich diesen zuschreiben

Die Lehrerbeispiele zeige ich nicht auf, weil hier Lehrer lesen, die das betrifft, sondern weil es sehr gut sein kann, dass einige Leserinnen und Leser sich selbst als Schüler dieser Lehrer wiedererkennen werden.


Merken wir überhaupt, dass Grenzen überschritten wurden? Was dann?

Wenn Menschen nicht oder erst später merken, dass das Verhalten der anderen Person ihnen nicht behagt, kann das daran liegen, dass sie als Kinder nicht von den erwachsenen Bezugspersonen gelernt haben, sich abzugrenzen. Das wiederum hat mit den Erwachsenen zu tun, ob diese sich abgrenzen konnten. (Ich denke, ich sage damit hier nichts Neues.) Da fällt mir ein: im Interview beim Podcast von Andy Schreck (im April 2022 erschienen) habe ich unter anderem über meinen Vater gesprochen. Mein Vater ist ein »Nein-Weltmeister« – er sagt nein und bleibt entspannt. Das Grenzen setzen habe ich von ihm gelernt – und ja, ich wurde in diesem Interview überraschend persönlich! 😅 Das lag vor allem an Andys sehr guten Fragen.

Doch selbst, wenn wir merken, dass Grenzen überschritten wurden – manche Menschen trauen sich nicht, etwas zu sagen oder ihr Unbehagen zu zeigen. Manche haben die (vielleicht unbewusste) Befürchtung, die andere Person würde sich dann von ihr abwenden. Oder dass sie als zu aggressiv rüberkommen und dadurch die andere Person verletzen würden. Und was bringt es, wenn wir unser Unbehagen für uns behalten und nicht signalisieren, dass das Verhalten der Person unerwünscht ist? Genau, auch das verbraucht Energie 😱 und zwar eine ganze Menge. (Und ist eines der Gründe, warum LehrerInnen nach einem Unterrichtsnachmittag geschlaucht sind).

Es ist jedoch das beste, was wir für unser Gegenüber tun können: ihn und sein Verhalten in unserer vollen Kapazität zu spiegeln. Nur so kann der andere in seine volle Präsenz kommen.

Grenzen geben tatsächlich Sicherheit, besonders, je jünger Schüler sind. Dann weiß unser Gegenüber, woran er ist, und kann sich entsprechend orientieren.



Was kannst du jetzt tun, wenn du merkst, “oh ja, da treffen einige Aussagen auf mich zu”?

Als erstes, vielleicht erstmal sacken lassen? Ich lade dich ein, in eine neugierige Beobachtung zu gehen. Ohne etwas zu ändern, fang an, zu sehen, wie es dir in unterschiedlichen Situationen deines Alltags geht, nicht nur im Unterricht. Spüre immer wieder in dich hinein, während des Tages: »Wie geht’s mir eigentlich gerade?« (körperlich, emotional, mental)

Und schau, was bei dir dadurch passiert.

Wenn wir in uns selbst eine größere Differenzierung wahrnehmen können, beginnt, mehr Raum in uns zu entstehen. Dadurch werden die inneren Vorgänge in uns klarer und präziser. Wir können Unterscheidungen machen, basierend auf dieser Klarheit. Dann bekommen wir neue Möglichkeiten,

  • unserem Gegenüber zu antworten,
  • entsprechend unserem Potenzial zu agieren, und
  • Verantwortung für unseren eigenen Raum zu übernehmen.

Grenzüberschreitungen (die allermeisten von ihnen, jedenfalls) geschehen nicht aus böser Absicht – denn jeder hat ein anderes Verständnis von Grenzen. Grenzüberschreitungen können passieren und an sich nicht vermieden werden.

Es liegt vielmehr an uns, darauf angemessen zu reagieren und unseren Raum zu wahren.

Grenzen setzen bewirken nicht, dass der andere sich umdreht und uns fortan meidet – eher das Gegenteil: Gesunde Grenzen steigern den Respekt beim Gegenüber. Denn wir kommunizieren, vielleicht nonverbal: »So geht das nicht.« Wir kommunizieren, dass wir in unserer Kapazität, auf unsere Umgebung zu antworten, Ressourcen haben.

Wir sind in unserer höchsten Möglichkeit, in unserem vollen Potenzial, wenn wir unsere Grenzen setzen und wahren. Dadurch bekommen die anderen die Gelegenheit, das Grenzen setzen von uns zu lernen. Grenzen setzen ist ein lebendiger, fließender Prozess.

Das Erstaunlichste ist dabei:

Diese Handlungsfähigkeit, die in der heutigen Zeit von uns gebraucht wird...?

... betrifft nicht nur den Instrumental- und Gesangsunterricht.



Unterrichtsflow, ein Onlinekurs für Lehrer von Instrumenten und Gesang



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