Teil 1: "Für sich sein" ist nicht immer "für sich sein".

An dem Tag, an dem ich zum Stille-Retreat fahre, geht’s mir nicht sonderlich gut. Ich fühle eine Leere im Körper, oder eher gesagt, fühle ich meinen Körper kaum noch. Die letzten Wochen, ach was, Monate, sind bei mir bis zur Kante voll gewesen. Neue Herausforderungen, neue Bekanntschaften, neue Learnings, neue Experimente und neue Erfahrungen. Mein Kopf schwirrt. Ich kann einfach nicht mehr diese Geschwindigkeit aufrecht erhalten. Ich brauche eine Auszeit. Bloß weg hier.

Wenn ich den Leuten erzählt habe, dass ich 10 Tage Schweigen fahre, ist meistens zurückgekommen: Oh, das könnte ich nicht, mit einer Mischung aus Neugierde und Ablehnung. Ist auch verständlich. 10 Tage nicht sprechen, wie wirst du das aushalten?, so mein Teenager-Schüler, sichtlich beeindruckt. Aber es ist ja nicht nur das Schweigen. Es sind 10 Tage Meditieren, und 10 Tage ohne Lesen, ohne Musik hören, ohne Schreiben, ohne Handy natürlich und ohne Kontakt zu anderen Menschen. Ach, du liebe Zeit, sagte eine Klientin, keinen Kontakt mit anderen Menschen! Das ist ja das Gegenteil von dem, was es ausmacht, Mensch zu sein! Komm bitte heile zurück.

Die Leute verstehen nicht, wie sehr ich mich auf diese Zeit freue. Ich brauche die Veränderung, wobei mir nicht ganz geheuer dabei ist. Ich habe noch nie so etwas gemacht. Die zwei Schweigetage letztes Jahr, sozusagen die Vorbereitung hierauf, hatte ich mit intensiven körperlichen Schmerzen verbracht, mit denen ich nicht einmal wirklich sitzen konnte. Ich bin jetzt auf alles gefasst, weil es nämlich auch ganz schön daneben gehen könnte.

Im Vorfeld auf die 10 Tage haben die Mentoren des Trainings darauf hingewiesen: Am Besten seid ihr wirklich nur für euch. Keine Verständigung mit den Anderen, auch nicht über Handzeichen, Berührung, oder in die Augen der Anderen schauen. Also wirklich jede/r für sich sein. Der Sinn dessen liegt darin, keine Ablenkung vom eigenen inneren Geschehen zu haben. Dass wir uns wirklich dem widmen können, was in uns auftaucht.

Aber nicht nur. Ich finde spannend, was hier noch passieren wird.

Am ersten Tag des Seminars sagt der Ausbildungsleiter: Was wir hier erforschen, ist zu sein, ohne etwas tun zu müssen.

Einfach sein.

Einfach nur sein?

Das wäre mal etwas anderes.

Einfach nur sein ist gar nicht so einfach für mich. Ich habe längst vergessen, wie sich Urlaub anfühlt. Als Selbständige gibt es im Alltag immer etwas zu tun. Und als Musikerin sind sowieso alle Stunden, die man nicht übt, verschenkte Zeit, gehört es doch zum täglich Brot, so lange wie irgend möglich am Instrument zu sitzen. Dabei vergesse ich manchmal, dass ich mir zu Zeiten meines Diploms zwei komplette Tage pro Woche frei genommen habe. Dienstags besuchte ich meinen damaligen Freund. Und sonntags war einfach Feiertag, Tag der Ruhe, der Tag des Herrn. Nicht, dass ich in die Kirche gegangen wäre. Ich bin ins Kino und ich habe mich mit meinen Freunden getroffen. Aber trotzdem: ein Tag zum Abschalten. Mein Diplom habe ich dann auch gut geschafft. Ich wage zu behaupten, gerade wegen diesem Abschalten.

Aber zurück zum Retreat. Zu meiner Überraschung komme ich in den ersten zwei Tagen prima zurecht. Es gibt ja auch eine feste Zeitstruktur. Der Tag beginnt um 7 Uhr morgens mit der Gehmeditation, dann immer weiter im monotonen Wechsel im Stundentakt, ein Schellen der Glocke kündigt den Beginn und das Ende einer Sitzung an: Meditation, Frühstück, Meditation, Pause, Meditation, Mittagessen, Mittagspause, Meditation, Pause, Gehmeditation, Meditation, Abendessen, Meditation.

Ich kann gut mit Strukturen, fließe sofort in diesen Tagesplan hinein.

Was ich auch noch gut kann, sind Aufgaben erledigen. Sachen "richtig" machen. Manchmal, das kenne ich schon von mir, bin ich zu streng damit. Aber ich kann’s, ich mach’s, und hier ist's ja auch erwünscht. Hier mal Meditieren, da mal Mittagessen, alles super, ich schaff’s. Ich vergesse nur dabei, dass ich das von einem Platz aus mache, der überarbeitet ist und dadurch auch eine gewisse Härte mit sich bringt.

Nach zwei Tagen, am frühen Abend, denk ich mir, ja wunderbar, ich kann das gut. Anweisungen umsetzen ist ja voll mein Ding. Könnt noch so weitergehen bis 10 Tage. Cool! Dieses Ding ist bereits gewuppt, sage ich mir. Ich kann gut für mich sein.

Eine halbe Stunde später überkommt mich tiefe Sehnsucht.

Ich vermisse meine Leute, meine Lieben, diejenigen in der Gruppe, die immer ein Anker für mich sind. Normalerweise würde ich abends noch mit jemandem aus der Gruppe zusammen sitzen und reden oder Quatsch machen. Da wir keinen Kontakt zu den Anderen aufnehmen sollen, habe ich das Gefühl, keiner ist für mich verfügbar. Klar, jeder ist hier für sich.

Ich bekomme die Krise.

Ich gehe zu einer der Mentorinnen. Ich schaffe das nicht alleine. Ohne Kontakt. Geht nicht.

Das ist ein wichtiger Schritt für mich, zu jemandem hingehen, zu sagen: Ich brauche Unterstützung. Denn ich habe immer alles alleine gemacht. Ich mache das immer noch in meinem Leben. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Und dieser Moment, wo ich sage, ich schaffe das nicht mehr alleine, der ist wichtig für mich. Den habe ich mir selten gestattet.

Die Mentorin lädt mich ein zu einem kurzen Gespräch. Ich möge bitte zu Beginn der Abendmeditation auf sie warten, dann können wir sprechen. Ich sitze auf der Bank vor dem Rasen und gedulde mich.

In dem Moment kommt eine meiner liebsten Freundinnen aus der Gruppe vorbei. Es ist Zeit für die Abendmeditation, und eigentlich müsste ich ja selbst dorthin. Aber ich warte auf die Mentorin, auf mein erstes richtiges Gespräch mit einem Menschen nach zwei Tagen Stille. Ich fühle mich miserabel. Immer noch kein Gefühl im Körper, erschöpft, gerade einen großen Schritt gemacht, noch etwas wackelig davon. Und meine Freundin kommt genau in dem Moment an mir vorbei.

Da schaue ich sie an, um ihren Blick aufzufangen.

Das dürfen wir ja nicht. Aber ich mach's.

Menschen spüren, wenn sie angeschaut werden. Ist das nicht merkwürdig, und doch spannend, als ob der ganze Körper Augen hätte? Ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, indem ich sie anschaue, macht was mit mir. Ich fühle mich etwas lebendiger.

Meine Freundin bleibt tatsächlich stehen und schaut mich an. Ich versuche ihr wortlos und ohne Handzeichen zu sagen, dass gerade Krise ist. Normalerweise wäre ich ja zu ihr gegangen. Sie versteht den Zusammenhang nicht, aber sie sieht, dass es mir nicht gut geht. Ich kann ihr ja leider auch nichts davon erzählen. Aber der Kontakt hat bereits stattgefunden. Ich fühle mich noch ein bisschen besser.

Da zwinkert sie mir liebevoll zu, ganz langsam schließt sie ein Auge, bevor sie weitergeht. Mir wird innerlich ganz warm. Mein Herz geht auf.

Und jetzt fühle ich, ich fange an, wirklich hier anzukommen. Das Gespräch mit der Mentorin tut gut. Ich kann danach mit neuer Kraft in die Meditation reingehen. Ich spüre so eine große Erleichterung darin.

Ab dem Moment fange ich an, nicht nur nach meiner Freundin, sondern auch nach einigen anderen meiner Leute in der Gruppe Ausschau zu halten. Diese Freundin und ein, zwei andere Menschen werden meine Anker im Schweigeretreat. Ich bin gut bei mir, das Meditieren bringt viele schöne, tiefe Erfahrungen. Aber die zwei oder drei Momente am Tag, in denen ich mich mit jemandem mit einem kurzen Augenzwinkern verbinden kann, die sind für mich Gold wert. Weil ich mir das gebe, was ich brauche. Genau das kommt in meinem Alltag immer wieder zu kurz. Das muss ich auch mir selbst zugestehen. Ich möchte mehr respektieren, was ich brauche.

Und es geht auch gar nicht mehr darum, dass ich „schummle“ - dass ich etwas tue, was eigentlich nicht so gewünscht ist.

Denn ich achte darauf, was das richtige Maß ist für mich. Streng zu mir kann ich gut sein, das habe ich immer schon getan, das tue ich immer noch. Aber liebevoll zu akzeptieren, dass ich hier und da etwas Bestimmtes brauche? Das ist die neue Erfahrung.

Für mich sein bedeutet jetzt, auf meiner Seite zu stehen. Zu mir selbst zu stehen.

Das ist, was ich hier wirklich lernen kann.


Teil 2: Das Stille-Retreat ist nicht still.

Nach dieser anfänglichen Krise komme ich in eine gute Routine. Der Tagesplan ändert sich ja 10 Tage lang nicht. Bei Meditationsende schellt zuverlässig die Glocke, und täglich grüßt das Murmeltier.

Mittlerweile habe ich ja meine Ankerpunkte. Die eine Freundin und ich zwinkern uns gegenseitig zu, etwa drei Mal am Tag. Nach ein paar Tagen kann ich sie sogar ein bisschen aufziehen, über Entfernung und mit meinen unverkennbar deutenden Blicken. Ich schaffe es auch, sie zum Lachen zu bringen. Das liebe ich. Leute, die ich mag, bringe ich gern zum Lachen. Mir geht’s so viel besser als am Anfang.

Eine andere Sache, die ich vor dem Retreat befürchtet hatte, sind körperliche Schmerzen. Beim letzten Mal hatte ich das gesamte Schweigewochenende Schmerzen gehabt: Schmerzen vor Wut, die ich nicht ausdrücken konnte, Schmerzen vom vielen Nicht-Bewegen natürlich auch. Bei der Rückkehr waren sie auf einmal weggewesen. Aber während der zwei Tage, die ich dagesessen war, konnte ich vor Schmerzen kaum sitzen.

Dieses Mal passiert etwas Erstaunliches. Anfangs zieht es noch hier und da am Rücken durch das lange Sitzen. Bei der Gehmeditation gehen wir so langsam, dass ich meine Resonanzlehre-Tricks anwenden muss, um das Ziehen umzuleiten, die Drehbewegung der Wirbelsäule ermöglichen, dass die Spannung abfließen kann. Das hilft mir sehr. Je weicher ich werde, desto weniger zieht es. Ab dem dritten Tag bin ich komplett schmerzfrei, muss nicht einmal die Resonanz-Tricks einsetzen. Ich bin selbst überrascht, weil ich nicht einmal Dehnungsbewegungen mache, sehr wenige. Ich genieße diese körperliche Freiheit.

Ein anderer Ankerpunkt ist meine Zimmernachbarin aus Portugal, mit der ich zwar keine Zwinkerbeziehung aufgebaut habe, aber die an sich schon ein Anker für mich ist, allein deshalb, weil unsere Betten im Schlafraum nebeneinander stehen und wir dadurch einen gemeinsamen Rhythmus teilen. Einige Abende im Retreat gehen wir sogar wortlos, quasi synchron ins Bett. Die Einfachheit dieser Erfahrung, die Nähe der alltäglichen Gewohnheiten, das gibt mir innere Ruhe, tut mir richtig gut.

Mit diesen kleinen Ankermomenten ist mein Tag durchdrungen mit Vertrautheit. Ich kann mich auf die nächste Schicht einlassen, das nächste Learning im Seminar. Was passiert, wenn ich über 8 Stunden pro Tag meditiere, Tag um Tag?

Ich merke nach einer Weile, es gibt eigentlich nur drei Zustände: der meditierende Zustand, der schlafende Zustand und der verdauende Zustand. Anders als bei weiter verbreiteten 10 Tage Meditationsretreats werden hier wie sonst auch drei üppige vegetarische Mahlzeiten pro Tag angeboten, in der Nachmittagspause sogar Kuchen. Einige der Gruppe haben sich dazu entschlossen, beim Retreat zu fasten. Ich habe schon von vornherein entschieden, für mich geht hier Fasten nicht. Nicht noch eines obendrauf setzen. Immer nur eine Herausforderung auf einmal, Maria.

Was natürlich auch zur Folge hat, dass die erste Meditationssitzung nach dem Frühstück und die erste nach dem Abendessen immer etwas „daneben“ verlaufen. Es ist schwierig, mich auf etwas anderes als meinen beschäftigten Bauch zu konzentrieren. Die Verdauung fordert sich ihren Weg durch meinen Körper, und ich kann nichts tun, außer beim Stillsitzen dieser Bewegung zu folgen. Am Ende der Sitzung merke ich dann, dass ich irgendwann vom verdauenden auf den meditierenden Zustand gewechselt bin. Interessant: egal, was ich tue, es bringt mich alles in die Meditation.

Was mir auch schnell auffällt, ist, dass das Stille-Retreat nicht still ist.

Türen knallen, Menschen trampeln durch den Meditationsraum, Bäuche rumoren, Tassen fallen sprengend zu Boden, Toiletten spülen Wasser durch die Leitungen, wieder knallen mehr Türen, wieder trampeln Menschen. Erstaunlich, wie viel Geräuschaktivität in so einem vermeintlich stillen Seminar eigentlich auftaucht. Als Musikerin kenne ich natürlich das fachliche Pendant dazu: John Cage, 4:33, oder 4 Minuten 33 Sekunden, ein Stück, das für jede Besetzung geschrieben ist: Die Künstlerin sitzt am Instrument, still, 4 Minuten und 33 Sekunden lang. Damit drückt John Cage aus, ohne es wörtlich zu benennen: Es gibt keine Stille auf dieser Welt. Es ist immer irgendetwas los. Und: alles kann Musik sein.

Solchen mentalen Abschweifungen falle ich immer wieder zum Opfer. In einer Stunde Meditation am Stück kann mein Kopf immer wieder, unzählige Male sogar, abschweifen. Doch zum Glück bin ich da schon lange mit mir entspannt. Meditieren ist das wieder zurückkommen, wenn man mental abgedriftet war, nicht das Ausbleiben von Gedanken. Einmal, in der ersten Nachmittagssitzung, sitze ich da und an dem Tag flirren in der Meditation ganz schön viele Gedanken. Ich kehre immer wieder zurück. Doch je mehr die Zeit vergeht, desto mehr merke ich: Mensch, ich bin wirklich tiefer gesunken, selbst mit abschweifenden Gedanken. Dann fällt mir ein, was der Ausbildungsleiter über Liebe gesagt hat. Liebe wächst da, wo es schwierig ist. Hm. Dann ist das hier ja auch Liebe, dass ich selbst mit abschweifenden Gedanken tiefer gesunken bin. Das berührt mich. Ich fühle, wie mein Körper sich von innen nach außen ausweitet. Ich fühle auch, wie Tränen aufsteigen. Das ist Liebe.

In dem Moment schellt die Glocke.

Da spüre ich, wie meine Tränen fließen und ich fühle so eine Erleichterung dabei. Das ist Liebe, ja. Ich fühle mich geliebt, selbst wenn ich es nicht „richtig“ mache. Es berührt mich so sehr, dass ich nicht mehr aufhören kann zu meditieren, auch nicht mehr aufhören möchte. Ich fühle mich so tief berührt, dass ich nur noch sitzen will, und nie wieder etwas anderes tun. Ich bleibe noch eine Weile, bis die Welle abgeklungen ist. Ich werde geliebt, einfach so. Was für ein Gefühl.

Nach dieser Erfahrung ist mein Geist noch ein Stück tiefer in mich hineingesunken. Jetzt fließe ich wirklich, mit meinem ganzen Körper, mit meinem ganzen Wesen, in diese Tage hinein. Ich werde weich. Die Schönheit, nur noch meinem eigenen Rhythmus zu folgen und den Verabredungen zum Meditieren. Die Gruppe trägt mich, und ich trage die Gruppe. In mir entsteht Raum, Heilung.

An dem Tag, an dem ich vom Stille-Retreat nach Hause fahre, fühle ich mich frisch, klar, wie rein gewaschen. Mein Körper ist leicht, mein Herz schwingt. Ich hätte eigentlich noch einmal 10 Tage dranhängen können. Im Zug erinnere ich mich: Die ersten Male, in denen ich wieder mit den anderen gesprochen habe, ist mir leicht schwindlig geworden. Besonders wenn die Aussage über Statements hinaus ging wie: „Die Sonne scheint“ oder „Es ist ein schöner Tag.“ Ich könnte sagen, dass mir komplexes Denken anfangs „zu Kopf steigt“. Erstaunlich, wie schnell sich Körper und Geist anpassen. Mich kribbelt’s, wenn ich daran denke, dass es noch so viel zu entdecken gibt, über mich, über diese Welt. In mir ist ein großes Ja zu diesem Moment. Liebe wächst dort, wo es schwierig ist. Ich nehme diesen Gedanken in mein Herz und mit nach Berlin, nehme ihn in meinen Alltag, gebe ihm Raum, dass er sich in meinem Leben ausbreitet.




Fünf Wege zum Flow







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