Monika ist 15 Jahre alt, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Appassionata-Sonate von Beethoven im Radio hört. Diese Musik bewegt sie zutiefst – gleich am nächsten Morgen steht sie da an der Türschwelle der Musikhochschule ihrer Heimatstadt. Sie weiß: Hier wird sie die Antwort finden auf die Frage, die sie seit dem Vorabend nicht loslässt: »Was muss ich tun, um dieses Stück von Beethoven am Klavier zu spielen?«
Monika hatte nämlich noch nie eine Taste angerührt.
So fing alles an.
Heute ist Monika eine etablierte Konzertpianistin und eine geschätzte Forscherin im Bereich der Musikwissenschaften. Unter ihren CD-Einspielungen befinden sich Werke, die früher als »unspielbar« galten.
Monika ist auch nicht ihr richtiger Name; ihre Geschichte wird sie vielleicht eines Tages selbst erzählen. Monika war meine Inspiration, als ich mit 17 Jahren beschloss, ohne viel Vorerfahrung zu haben, zur Konzertpianistin zu werden. Einfach so. Weil man das machen muss, weil die Musik etwas in einem berührt hat und man dieses immer und immer wieder erleben möchte.
Monika inspirierte mich, am Klavier dran zu bleiben
Ich lernte Monika mit 18 Jahren kennen, kurz nach diesem Entschluss. Sie ermunterte mich sofort, sprach mir zu, meine Klavierausbildung würde die Basis für mein späteres Schaffen werden. Damit sollte sie recht behalten. Ich schrieb ihr über die Jahre immer wieder über meine kleinen Erfolge. Sie nahm sich Zeit, inmitten ihrer aktiven Konzerttätigkeit auf meine Briefe zu antworten. Ihre Briefe waren wie Aufwind für meine Segel, immer wieder, alle vier bis sechs Monate kam einer von ihr. Ich schrieb jedes Mal sofort zurück.
In meinem Buch habe ich den Moment beschrieben, der all das in mir ausgelöst hat. Ich wollte mit 17 Pianistin werden, selbst, wenn ich mir gerade mit Müh und Not die Stücke aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach am Klavier beibrachte. Doch nicht alles an diesem Entschluss war Unterstützung. »Es ist zu spät«, »Das wird nichts mehr«, »Der Zug ist abgefahren«, solche Kommentare bekam ich häufig zu hören. Ich sah so viele Züge abfahren in der Zeit, ich kam mir vor wie auf dem verdammten Hauptbahnhof. Nahezu jeder vertrat diese Meinung, außer meiner damaligen Klavierlehrerin, die mich binnen drei Jahren erfolgreich auf die Aufnahmeprüfung am Konservatorium vorbereitete.
Selbst bei den Blechblasinstrumenten, bei denen man oft älter ist, wenn man beginnt, als beim Klavier oder der Geige, gibt es das Konzept des »späten« Anfangs. Kann es »zu spät« sein, Musiker zu werden?
»Spät anfangen« ist Fluch und Segen, gleichzeitig.
Ich hatte lange das Gefühl, die »verlorene Zeit aufholen zu müssen«. Ich verzichtete auf viele, viele Dinge, um Klavier zu spielen. Dank der Unterstützung meiner Familie und meiner Lehrerinnen und Lehrer, und nicht minder durch den Briefwechsel mit Monika, schloss ich am Konservatorium von Barcelona mit 25 Jahren mit dem Diplom ab. Damals gab es nur die Künstlerische Ausbildung mit einigen Pädagogik-Kursen – ich musste also durch den brennenden Reifen springen, wie alle anderen auch.
Der Segen im späten Anfang lag bei mir darin, dass sich ganz viele Fragen gar nicht erst gestellt haben. »Bin ich gut genug?« tauchte gar nicht erst auf. Ich war gut genug, zu studieren, ja, nächste Frage. »Bin ich besser als ...?« stellte sich für mich auch nicht, denn ich war komplett außer Konkurrenz – für mich ging es darum, überhaupt zu spielen und auf der Bühne stehen zu können. Befreit davon, nach links oder nach rechts schauen zu müssen, konnte ich einfach meinem eigenen Lernweg folgen, einzig und allein mich selbst zu übertreffen. Ich wusste, warum ich Klavier studieren wollte – und war bereit, für diesen Weg zu gehen. Ich hatte ihn für mich ausgesucht – ohne zu wissen, was er beinhaltete (auch das hat sich später als ein Segen herausgestellt).
Das »späte« anfangen in der Musik bereichert uns alle
»Spätanfänger« bringen einfach einen anderen Blickwinkel auf das gesamte Musikschaffen. So viele Musikerinnen und Musiker kommen zu meinen Kursen wegen meiner besonderen Einstellung und meines Blicks auf den Lernprozess von Musik und darauf, was es bedeutet, Musikerin zu sein. Meine Texte und mein Buch speisen sich aus diesen Erfahrungen. Ich finde, »Spätanfänger« bereichern unser gesamtes Musikschaffen – denn nicht alles in der Musik ist »höher, schneller, weiter«. Gerade diejenigen, die des »höher, schneller, weiter« überdrüssig sind, kommen selbst an einem Punkt in ihrem Prozess, mit dem sich viele Spätanfänger bereits seit dem Anfang ihres Werdegangs beschäftigt haben. »Spätanfänger« verstehen etwas von Lernprozessen und sind ganz oft die besseren und vor allem die geduldigeren Lehrer.
Und vor allem: »Spätanfänger« beweisen, dass es die eine Künstlerbiographie nicht gibt, selbst wenn es manchmal so aussieht, als ob es nur eine geben kann. »Das wird nichts mehr« ist eben nur eine Meinung unter vielen. Wer bitte hat dir zu sagen, was du tun und lassen kannst? Ich habe eine Arbeit für mich erschaffen, die viele andere Musiker bereichert – ohne meine Musikerlaufbahn könnte ich nicht die angewandte Musikphysiologie so vermitteln, wie ich es heute tue.
Eine der bekanntesten Teilnehmerinnen meiner Umfrage begann mit 18 Jahren an der klassischen Gitarre. Sie ist heute eine gefragte konzertierende Gitarristin – was beweist, dass nicht alles im Vorfeld entschieden ist.
Das »späte« anfangen in der Musik wird mein drittes Buch
Seit 2015 habe ich eine Umfrage auf meiner Webseite für Musikerinnen und Musiker, die auf der Bühne stehen und »spät« mit der Musik angefangen haben. Wenn du das Gefühl hattest, dass du »spät« mit der Musik angefangen hast, ganz gleich, wie alt du tatsächlich warst, hast du dich für die Teilnahme an meiner Umfrage qualifiziert.
Ursprünglich wollte ich einen Blogartikel über das Thema schreiben. Doch dann nahm die Sache Fahrt auf, es wurde alles viel größer, als ich es mir vorstellen konnte. Einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gaben mir die Erlaubnis, mit ihnen ein kurzes Interview zu führen und mehr über ihre Erfahrungen zu lernen. Dabei merkte ich: das mit dem »spät« anfangen ist so ein weites Feld – es gibt so viele Aspekte, die wertvoll sind, aus denen wir alle lernen können. Das braucht mehr Raum als einen Artikel. Dieses Thema ist also mein drittes Buchprojekt. (Mein zweites Buch ist das Fachbuch zu meiner Arbeit.)
Nimmst du an meiner »Spätanfänger«-Umfrage teil?
Für jeden von uns bedeutet »spät« mit der Musik anzufangen etwas ganz anderes. Ich bin sicher, du hast deine eigene, ganz persönliche Geschichte zu diesem Thema, und die interessiert mich brennend. Denn du hast einen ganz anderen Blickwinkel als ich, und der ist mir wichtig für das Buch. Wenn du konzertierender Musiker oder Musikerin bist und das Gefühl hattest, dass du »spät« mit der Musik angefangen hast, ganz gleich, wie alt du tatsächlich warst, hast du dich für die Teilnahme an meiner Umfrage qualifiziert. Seit 2015 haben bereits 72 Musikerinnen und Musiker meine Umfrage ausgefüllt, aus allen Instrumenten und Stilrichtungen. Manche davon kennst du vielleicht, manche andere wollen anonym bleiben. Die Umfrage ist auf Englisch, doch du kannst auch auf Deutsch antworten. Du kannst gleich hier mit der Umfrage starten. Das Ausfüllen der Umfrage braucht ca. 10 Minuten. Danke, dass du mir hilfst, mein drittes Buch zu gestalten: