Was ist wichtiger beim Musizieren: Haltung oder Bewegung

Was ist wichtiger beim Musizieren: Haltung oder Bewegung?

Vor einigen Wochen hatte ich eine sehr interessante Unterhaltung mit einer Sängerin auf einem sozialen Netzwerk. Jemand hatte gefragt, wie das ist, wenn man an der Haltung mit Gesangsschülern arbeitet, die eine starke Skoliose haben. Die Person habe eine Schülerin mit starker Skoliose, wenngleich ohne Korsett, und wolle die Tendenz wissen, wie sich die Haltung wieder zentrieren ließe.

Daraufhin verfasste ich eine kurze Antwort, die eine interessante Konversation mit einer anderen Sängerin eröffnete. Die Person bleibt hier anonym.

Screenshot einer Unterhaltung auf einem Sozialen Netzwerk

Nach meiner letzten Aussage hatte die andere Person nicht mehr geantwortet.


Erst das Instrument beherrschen, dann bewegen?

Ich teile diese Konversation hier auf dem Blog aus verschiedenen Gründen. Bemerkenswert finde ich zunächst die Aussage, das Instrument Stimme müsse zuerst beherrscht werden, damit es später "trotz Bewegung" weiterhin einsatzfähig bliebe.

Mit dieser Aussage steht diese Person nicht alleine – im Bereich Gesang, und insbesondere der Klassik, hat sich allgemein etabliert, dass man sich beim sängerischen Vortrag nicht bewegen soll. Davon mal abgesehen, dass, ja, große Bewegungen die Zuhörer ablenken könnten, wird immer stärker die Ästhethik des Vortrags in den Vordergrund gerückt. Wie jemand beim Singen aussieht, scheint immer wichtiger zu werden als ihre Aussage oder das Klangergebnis. Es scheint nur noch eine geringe Rolle zu spielen, ob die Person die Zuhörer erreicht oder wie sie sich beim Singen körperlich fühlt.

Doch auch bei anderen Instrumenten wird das Nicht-Bewegen und die Ästhetik des Vortrags immer wichtiger – mit fatalen Folgen. Denn es werden zwei Dinge hier verwechselt. Das eine ist, ob der Musiker sich und seinen Vortrag stört; das andere ist, ob der Musiker in seiner Bewegungsfreiheit auch dazu kommt, sich so auszudrücken, wie er fühlt.

Es wird mit dem Begriff Haltung natürlich auch eine gewisse Stabilität angestrebt, eine gewisse Robustheit. Diese soll natürlich unter anderem Musikern dabei helfen, ganze Konzertabende und Tourneen erfolgreich zu bestreiten. Dass Musiker diesen Bedarf haben, stimme ich ganz zu.

Außer Acht gelassen wird in dieser Diskussion die Tatsache, dass Bewegung die Ausdruckskraft beim Musizieren grundsätzlich unterstützen kann und zudem noch ein wichtiger Regulator ist, um Spannungen auszugleichen, bzw. diese Spannungen über den Klang nach außen zu bringen. So muss die Spannung sich nicht mehr im Körper aufhalten. Haltung – das Wort drückt ja schon etwas Festes, Stehengebliebenes aus – erzeugt den gegenteiligen Effekt. In einem an sich atmenden, organischen Körper wird etwas »gehalten«. Doch ein Organismus braucht diese Beweglichkeit. Dadurch entstehen meines Erachtens die sogenannten Musikerkrankheiten.

Um ehrlich zu sein, kann ich es nicht mehr hören: das Bestehen darauf, dass Haltung, dass ein Nicht-Bewegen, vor der Musik kommen soll. (Das irgendetwas vor der Musik kommen soll, um es vollständig auszudrücken.)

In meiner Unterrichtspraxis erlebe ich nämlich das Gegenteil – dass wenn Musiker sich das selbst erlauben, dass ihr Körper sich bewegt, so wie die Musik es möchte, dann auf einmal Dinge passieren, die sie nicht für möglich hielten. Da werden neue Türen geöffnet für künstlerischen Ausdruck, für Ausgleich von Spannungen, für vollen, tragenden Klang. Sängerinnen und Sänger berichten, sich freier zu fühlen, die Stimme »will« leichter, es ist natürlicher, so zu singen. Dinge fallen ganz natürlich an ihren Platz, wenn die körpereigene Intelligenz übernimmt. Denn zum Glück antwortet der Körper sofort, wenn man beginnt, seine Sprache zu sprechen.


Ist mein Körper nicht mein Instrument?

Im Laufe der obigen Konversation in den Sozialen Medien treffe ich mit meiner Aussage, dass Beweglichkeit wichtiger ist als Haltung, auf Unverständnis. Als Cembalistin stehe doch mein Instrument still, sagt die andere Person. Sie versteht noch nicht, dass auch Pianisten, Cembalisten, Geiger, Klarinettisten ihren Körper als Instrument fühlen können. Mich wundert, wie eine Sängerin, die unter allen möglichen musikalischen Partnern gerade mit Pianisten am öftesten musiziert, mit Abstand von allen anderen Instrumentalisten, darauf besteht, dass das Instrument einer Tastenspielerin nicht ihr Körper ist. Ich glaube, jede Sängerin oder jeder Sänger kann mir zustimmen, was für einen Unterschied es macht, wenn der Begleiter oder die Begleiterin am Klavier mit atmet und sich mit bewegt. Und wer noch keinen Unterschied feststellen konnte, den lade ich ein, neugierig zu bleiben und die Kollegen beim Klavierspielen zu beobachten. Die meiste Freude macht nämlich das Musizieren mit denjenigen Musikern, die ihren Körper als Instrument verstehen. (Selbst, wenn sie es nicht in diesen Worten ausdrücken würden.)

In der Regel ist es noch nicht bewusst, dass die Qualität eines Musikers sehr wohl von seiner körperlichen Verfassung abhängig ist. Dass ein Saxophon, oder nehmen wir gleich ein Cembalo, immer anders klingen wird, je nach dem, wer es spielt. Es ist nicht nur die Technik, oder die Reife oder die Musikalität. Es ist die Fähigkeit des Musikers, den Klang des Instruments durch seinen Körper durchzulassen, ihn sogar mit seinem Körper zu potenzieren.


Worin der Kern dieser Frage liegt: Haltung, Stabilität und Elastizität

Meines Erachtens ist eine Beweglichkeit des Körpers deutlich wichtiger als die Haltung. Beweglichkeit ist wichtig, und dann noch ein anderes Wort, nämlich Elastizität, wenn wir über das Musizieren sprechen.

In der Regel wird mit dem Wort »Haltung« meines Erachtens nämlich eine Stabilität gemeint. Und wir brauchen diese Stabilität, auf jeden Fall. Doch es ist in der Elastizität, und nicht in der Haltung, in der diese Stabilität mit drin vorkommt.

Denn Elastizität ist ein intrinsisches Element unser Körpers, mit seinen Muskeln und Faszien. Faszien, die elastische Komponente unseres Körpers, ermöglichen geschmeidige, filigrane, schwungvolle Bewegungen. Faszien, die essenziell aus Protein und Wasser bestehen, lieben Dehnen, sie lieben federnde Bewegungen, und sie lieben vor allem Beweglichkeit.

Werden Faszien zu lange gehalten, oder wenn wir uns wenig bewegen, entstehen in ihnen Verklebungen, und wir fühlen uns "weniger geschmeidig". Ein verklebtes Fasziennetz ist der Grund, warum so viele Musiker sich mindestens eine Stunde warmspielen oder warmsingen müssen, bevor sie anfangen können zu üben. Was für eine Zeitverschwendung! Es geht nämlich auch anders, nämlich wenn wir beginnen, unseren Körper als das elastische Wesen zu behandeln, das es ist. Man kann Faszien trainieren, beispielsweise mit Körperübungen. Und jeden Tag etwas dafür machen, dass unser Gewebe geschmeidig bleibt.

Nur ein gelöstes Gewebe ist in der Lage, Elastizität aufzubauen – doch es ist erst im Ausdruck dieser Elastizität, wo wir die angestrebte Stabilität erleben können. Man könnte sagen, in der Elastizität unseres Körpers ist unser gesamtes Potenzial enthalten.

Es geht in dieser Frage schlussendlich nicht um Haltung, sondern um Bereitschaft. Ist der Körper bereit, flexibel und in allerfeinster Weise auf die gehörten Klänge zu reagieren und die innere Klangvorstellung umzusetzen? Gibt der Tonus des Körpers dem Klang seinen eigentlichen Kern? Ist das körperliche Gewebe elastisch, bereit den Klang aufzunehmen und durchzulassen, oder ist es hart und verklebt?

Denn es kann sein, dass das Wort »Haltung« irreführend ist, und dass die beste Haltung letztendlich in einer elastischen Beweglichkeit besteht, und in der Fähigkeit, flexibel auf die gehörten Klänge zu reagieren.




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