Wenn Vertrauen vorausgesetzt wird

Ein halbes Jahr lang nach meinem Klavierdiplom rührte ich keine Taste an. Als ich danach wieder Unterricht nehmen wollte, spielte ich einer Konzertpianistin vor, die ich insgeheim "die Russin" nannte, obwohl sie keine Russin war. Sie kam aus Australien, hatte lange, wellige dunkle Haare, gesehen oft mit einer Zigarette zwischen den Fingern, und trug selbst in Innenräumen eine Sonnenbrille. Studiert hatte sie in Moskau am Konservatorium, daher die russische Verbindung, war danach Professorin in Genf gewesen, hatte auch das schließlich hinter sich gelassen, um sich schließlich mit Mann und Sohn bei Barcelona an einem Strandörtchen abzusetzen. Von Moskau hatte sie die Strenge mitgenommen, die Disziplin, war äußerst pragmatisch, wenn es um Technik ging. Sie spielte oft im Ausland und war zeitweise wochenlang auf Tournee.

Die anderen Schülerinnen von ihr, die ich kannte, schwärmten nur so von ihr, und ich wollte wieder Unterricht, fühlte mich noch nicht ganz abgeschlossen, obwohl ich ja mein Diplom hatte. Ich hatte erst 8-9 Jahre vorher mit dem Klavier begonnen, mit 17; absolut spät und gegen alle kritischen Meinungen hatte ich mich Schritt für Schritt ins Konservatorium erkämpft, dort dann großes Glück mit meinem Prof gehabt (obwohl ich anfangs skeptisch war, zu ihm zu kommen). Ich erinnere mich an den Tag meiner zweiten Prüfung, der letzten, die das Ganze schlussendlich besiegeln sollte, die mit dem Klavierkonzert, da war ich schon mental woanders. Ich erschien zur Prüfung mit Spagettiträgern und Leinenhose, weil ich direkt danach in den nächsten Zug steigen wollte, um an den Strand zu fahren. Praktischerweise lag das Konservatorium an der Calle Bruc, fußläufig keine fünf Minuten von einem der größeren Bahnhöfe Barcelonas. Ja, ich zeigte der Kommission damit, dass mir die ganze Paraphernalie eigentlich egal war. War sie mir auch, denn es ging für mich um etwas anderes. An diesem Tag befreite ich mich selbst vom Joch, als Spätanfängerin "die verlorene Zeit aufzuholen". Ich hatte dieses Gefühl seither nicht mehr. Die Jahre mit meinem Prof, obwohl nährend und stärkend, waren so intensiv gewesen, dass ich nach der Pause einen Wechsel brauchte. Und ich befürchtete, den Absprung in andere Perspektiven zu verpassen, wenn ich über das Diplom hinaus weiter mit ihm zusammen arbeiten würde.

Ich spielte also ein halbes Jahr nach dieser Prüfung bei der Russin zu Hause vor, in ihrer Dachgeschosswohnung in ihrem verträumten Strandörtchen, und sie hörte von mir Debussy-Etuden, eine Suite von Britten, Brahms-Intermezzi, alles schön und gut. Als ich fertig war, fragte sie, wo die großen Chopin-Etuden waren, ob ich überhaupt solche Etuden gespielt hatte. Hatte ich nicht. Was ist denn mit Prokofjew, Skrjabin, hatte ich alles nicht, immer Schubert, Mompou, Bartók, das Lyrische, Musikalische, wo ich meine Ausdrucksmöglichkeiten zeigen konnte. Dann sagte sie: "Dann wird das ab jetzt dein Repertoire. Du musst jetzt laut werden."

Das waren ihre Worte, "es ist Zeit für dich, laut zu werden, Maria."

Innerlich fühlte ich ein Sträuben, und gleichzeitig auch eine innere Bewegung, als würde etwas in mir nach oben steigen, mit der Erkenntnis: Diese Frau setzte voraus, dass ich diese schweren Stücke spielen konnte. Etwas, was ich mir nicht mehr zugetraut hätte; ich war als Spätanfängerin schon so weit gekommen, da musste ich auch nicht noch nach den Sternen greifen. Aber genau das setzte sie voraus.

Während ich nach Worten suchte, fuhr sie fort: "Ich gehe jetzt auf Tournee und komme in sechs Wochen wieder und wenn ich wiederkomme, möchte ich, dass du mir die Etude op. 25 Nr. 12 von Chopin vorspielst und den ersten Satz vom ersten Prokofjew-Konzert. Kauf dir auch die Noten von der 4. Sonate von Skrjabin."

"Aber denkst du wirklich, dass ich das spielen kann?"

"Ja, natürlich. Du musst jetzt laut werden. Du bist drei Monate auf Probe und wenn wir nach drei Monaten sehen, dass das nicht geht, hören wir auf."

Ich blieb bei ihr nicht nur drei Monate, sondern anderthalb Jahre, und es waren die besten Jahre in meinem Training als Pianistin. Ich lernte bei ihr all die Profi-Tricks, die ich heute meinen Schülern oder Klienten am Klavier beibringe, das Pragmatische an der Technik, Bewegungen, die auf einmal Türen öffneten. Ich spielte all diese Stücke, und noch weitere danach, und das, was mir Wind in die Segel blies, war ihr Vertrauen in mich, dass ich das schaffen konnte. Ich hatte mir selbst bis hierher vertraut, das hatte mich bis zu diesem Moment gebracht, aber ich hatte nicht gewagt, zu glauben, dass ich das Glanzrepertoire auch noch spielen konnte. Diese Lehrerin gab mir so viel Feuer, dass ich beschloss, nach Berlin zu ziehen und dort mein Glück als Pianistin zu versuchen. Bittersüßer Moment, hatte mich ihr Unterricht so weit gebracht, dass ich leichtsinnig genug wurde, so einen Schritt zu tun, und gleichzeitig der Schmerz, ihren Unterricht nicht mehr zu bekommen, denn ich war mit ihr noch lange nicht fertig. Aber es war der richtige Weg für mich.

Das ist, was passieren kann, wenn Lehrer Vertrauen in uns haben – oder umgekehrt, was wir in Schülern bewirken können, mit unserem Vertrauen in sie. Dieser Pianistin verdanke nicht nur ich mein Wachstum, sondern jeder, der in meinen Unterricht kommt, etwas Essenzielles: Die Tatsache, dass ich keine Grenzen in der anderen Person sehe, sondern nur die, die sie sich selbst auferlegt.



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